Bürstadt. „Im Jahr 2022 ist die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland auf ein Rekordtief gesunken“, berichtet Melanie Schilling im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie leitet die Schuldnerberatung der AWO Bergstraße, die ihren Sitz in Bürstadt hat. „Die Zahl der überschuldeten Haushalte ist unter drei Millionen gesunken. Das ist das erste Mal seit Beginn dieser Statistik und kam völlig überraschend.“ Als „Corona-Nachhall“ sei eher ein Schuldenhoch zu erwarten gewesen.
Die Zahl stammt aus dem SchuldnerAtlas Deutschland, den die Wirtschaftsauskunftsdatei Creditreform jährlich vorlegt. Diesen Angaben zufolge ist die Überschuldungsquote im Kreis Bergstraße von 7,84 Prozent im Jahr 2021 auf 7,50 Prozent im Jahr 2022 gesunken. Diese stellt den Anteil der überschuldeten Personen im Verhältnis zu allen Erwachsenen dar.
Eine Überschuldung liegt dann vor, wenn ein Schuldner seine fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht begleichen kann und ihm zur Deckung seines Lebensunterhalts weder Vermögen noch Kreditmöglichkeiten zur Verfügung stehen. „Das ist eine sehr belastende Situation für die Betroffenen“, sagt Melanie Schilling. Zum finanziellen Druck komme noch die Scham, über die Schulden und die Geldnot zu sprechen. „Wir haben 420 Personen im Jahr 2022 beraten. Im Jahr 2021 waren es 460 Personen.“
Den leichten Rückgang führt die Schuldenberaterin aber nicht auf das Überschuldungstief zurück. „Das hat mit der Verkürzung der Insolvenzlaufzeit zu tun.“ Zum 1. Oktober 2020 wurde das Restschuldbefreiungsverfahren von sechs Jahre auf drei Jahre verkürzt. Darauf hätten einige Klienten gewartet. Das habe sich dann 2021 bemerkbar gemacht.
Der Beratungsbedarf sei nach wie vor hoch. Daran ändere auch das Schuldentief nichts. Zeitweise geriet die Beratungsstelle sogar an ihre Kapazitätsgrenzen. „Auch wir hatten Krankheitsfälle. Unsere Klienten mussten teilweise ein paar Wochen auf einen Termin warten“, berichtet Melanie Schilling.
Staatliche Hilfen greifen
Dass die Überschuldung trotz Pandemie nicht angestiegen ist, dafür nennt die Beraterin mehrere Gründe. Der während der Pandemie befürchtete hohe Anstieg der Arbeitslosenzahlen sei ausgeblieben. Die Unterstützung des Arbeitsmarktes durch staatliche Hilfen habe Wirkung gezeigt. „Arbeitslosigkeit steht bei den Verschuldungsursachen auf Platz eins.“
Ein weiterer Grund für das Schuldentief lasse sich auf das veränderte Konsumverhalten zurückführen, das sich aufgrund von Einschränkungen durch Corona ergeben habe. Geschlossene Geschäfte, Gaststätten und Freizeiteinrichtungen hätten dazu geführt, dass weniger Geld ausgegeben worden sei.
„Außerdem ist die Sparquote nach oben gegangen. In Krisenzeiten hält man das Geld zusammen“, sagt Melanie Schilling. Allerdings falle dies Menschen, die in Haushalten leben, die monatlich mit weniger als 2000 Euro auskommen müssen, wesentlich schwerer. Aufgrund der aktuellen Inflation und hohen Energiepreise sei das Ersparte bei vielen Menschen inzwischen aufgebraucht worden. Die weiteren Auswirkungen dieser Teuerungen werde sich erst noch zeigen. „Das kommt zeitversetzt bei uns an.“
Im vergangenen Jahr hätten sich 21 unter 25-Jährige beraten lassen. Der Großteil der Ratsuchenden sei im Alter von Mitte 30 bis Mitte 50. „Auffallend ist die Altersarmut bei Menschen mit sehr niedriger Rente“, hat Melanie Schilling festgestellt. „Massiv gestiegen ist die Einkommensarmut durch niedrige Löhne, sie liegt bei den Verschuldungsursachen nach der Arbeitslosigkeit und Krankheit auf dem dritten Platz.“ Danach folgen Trennung (Scheidung) und Konsumverhalten.
Wie kann die Schuldnerberatung helfen, wenn das Geld vorne und hinten nicht reicht? „Wir haben keinen Geldtopf, und Wunder können wir nicht bewirken. Aber wir können gemeinsam schauen, wie wir ein stabiles Fundament für den Haushalts- und Budgetbedarf schaffen können“, sagt die Beraterin. Zunächst sei es wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen: Wie hoch sind die Schulden insgesamt? Was lässt sich bei den Ausgaben einsparen? „Es muss nicht gleich ein Insolvenzverfahren sein.“ Aber es sei eine Möglichkeit, wenn auch keine leichte, um schuldenfrei zu werden, wie Melanie Schilling betont. Knapp 100 Privatinsolvenzen haben die AWO-Berater im vergangenen Jahr mit auf den Weg gebracht.
Gleichzeitig setzt die Schuldnerberatung auf Prävention und hat dabei die junge Generation im Blick. „Wir gehen seit 2010 in die Schulen und üben mit den Schülern die Haushaltsplanung.“ Unter anderem besuchen die Berater die Erich Kästner-Schule in Bürstadt und die Albertus-Magnus-Schule in Viernheim. Auf dem Stundenplan steht dabei die Aufgabe, mit dem Gehalt eines Auszubildenden den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Danach würden viele Schüler lieber noch etwas länger zuhause bei den Eltern bleiben.
Ein weiteres Präventionsprojekt richtet sich an ältere Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. „Wir hatten zusammen mit dem Quartiersbüro in Bürstadt und PauLa, der Psychosozialen Fachkraft auf dem Land, ein tolles Info-Café zu diesem Thema organisiert. Das wurde sehr gut angenommen.“