Karolina-Burger-Realschule plus

Generation Haftbefehl: Warum Gewalt an Ludwigshafener Schule kein Zufall ist

In Ludwigshafen werden Bedrohungen und raue Sitten an der Karolina-Burger-Realschule bekannt. Gleichzeitg erscheint eine Doku über Aykut Anhan alias Haftbefehl. Wie hängt das zusammen? Eine Einordnung.

Von 
Stephan Alfter
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Eine Szene aus der neuen Dokumentation „Babo - Die Haftbefehl-Story“, die Haftbefehl alias Aykut Anhan als Kind zeigt. Die Doku ist seit 28. Oktober bei Netflix zu sehen. © --/Netflix /dpa

Das Wichtigste in Kürze

- Gewalt an der Karolina-Burger-Realschule plus in Ludwigshafen ist kein Zufall.

- Haftbefehls Einfluss zeigt sich in Sprache und Verhalten der Jugendlichen.

- Seine Texte thematisieren soziale Konflikte und fördern stereotype Bilder.

Ludwigshafen. „Chabos wissen, wer der Babo ist.“ Man muss gar keine Jugendsprache verstehen, um eine der bekanntesten deutschen Liedzeilen interpretieren zu können. Aykut Anhan, dessen bürgerlichen Namen bis vor wenigen Tagen nur eingefleischte Follower kannten, hat sie dem deutschen Feuilleton im Jahr 2013 vor die Füße gerotzt. Unter dem Namen Haftbefehl hat er seither eine erstaunliche Karriere hingelegt, die nun Teil einer höchst erfolgreichen Dokumentation auf Netflix ist.

Auf der Bildfläche erschien der Gangsta-Rapper und inzwischen zum Asphalt-Goethe umfirmierte 40-Jährige schon im Jahr 2010. Es ist ganz zufällig das Jahr, als in Rheinland-Pfalz die Hauptschule abgeschafft wird, um sie – zugespitzt formuliert – fortan einfach Realschule plus zu nennen. Die Eltern derjenigen Kinder, die bis dahin Realschüler gewesen waren, meldeten ihre Söhne und Töchter nun als Konsequenz im Gymnasium an und fertig war die rheinland-pfälzische Schulreform.

Warum verwenden Jugendliche weniger Artikel und Pronomen?

Die Karolina-Burger-Realschule plus in Ludwigshafen ist gerade dabei, zu einem Symbol für die Entwicklung seit dieser Zeit zu werden. Die Kakophonien der Vuvuzelas bei der Fußball-WM in Südafrika waren gerade verstummt, da zog ein neuer Sprachstil in die Realschulen plus ein, der selbstverständlich auch vor den Gymnasien nicht haltmachte. „Gehen wir Schwimmbad?“, hörte man plötzlich aus heimischen Kinderzimmern. „Gibst Du Geld?“, „Gehst Du Döner?“ oder „Geb ich Dir Schelle!“ Die ersten Vertreter dieser Alterskohorte kommen gerade im Berufsleben an, und mit hoher Wahrscheinlichkeit teilen Sie ihren Liebsten abends im Falle einer Verspätung mit: „Bin noch Büro.“

Was seit Ende der sogenannten Nullerjahre ungewohnt und stellenweise sogar nach babylonischer Sprachverwirrung klang, war der neue Stil, in dem sich Jugendliche miteinander unterhielten. Bestimmte und unbestimmte Artikel wie der, die oder das wurden ebenso aus den Sätzen verbannt wie die besitzanzeigenden Fürwörter mein oder Dein. Es entstanden Fragesätze, die noch ein Verb enthielten, denen dann zum Glück noch ein Personalpronomen folgte, um am Ende irgendein Substantiv anzuhängen. Der Dreiwortsatz war geboren und mit ihm die Frage, warum sich hier in Deutschland aufgewachsene Kinder plötzlich einer Sprache anpassten, die eher jenen Jugendlichen gehörte, die ihre Kita-Zeit woanders verbracht hatten? Hätte es nicht umgekehrt sein sollen? Die Antwort darauf könnte man sich einfach machen: Es reichte, um sich zu verständigen. Und es ersparte Jugendlichen mit Migrationshintergrund das tiefe Eintauchen in die unbeliebten Hinterhöfe deutscher Grammatik.

Schwer bewaffnete Polizeibeamte stehen im Jahr 2018 vor der Karolina-Burger-Realschule. Ein möglicherweise bewaffneter Jugendlicher hat in Ludwigshafen einen Großeinsatz der Polizei ausgelöst. © picture alliance / Uwe Anspach/dpa

Aber das ist vermutlich nur ein Teil des Ganzen, denn es war auch ein Prozess, der der Abgrenzung deutscher Mittelstandskinder gegen das Elternhaus diente. Quasi eine Rebellion gegen eine Generation, die die Dinge nicht mehr beim Namen nennt, sondern vermeintlich komplizierte Umschreibungen für einfache Phänomene findet. Der Verzicht auf grammatikalische Regeln kann obendrein einen gewissen Grad an Lässigkeit oder Coolness vermitteln. Zudem erspart das Weglassen von Artikeln und Pronomen Zeit bei der Übermittlung von Textnachrichten, die sich mit der Verbreitung des ersten iPhones im Jahr 2007 nochmal vervielfachten. In den manchmal irritierenden und polarisierenden Text- und Bildwelten von Haftbefehl und seinen Apologeten artikulieren sich zudem besonders soziale Konflikte um Ressourcen, die als Kampf um Anerkennung und soziale Teilhabe verstanden werden können.

Welches Bild von Frauen und Juden vermittelt Haftbefehl?

Handelt es sich bei den Auswüchsen an Bedrohung und Gewalt an der Karolina-Burger-Realschule plus also eigentlich nur um Hilferufe einer überforderten Schülerschaft? Einer Jugend, die zwischen zunehmender Armut, internationalen Krisen und der digitalen Transformation zerrieben wird und tatsächlich nicht mehr weiß, wer der „Babo“ (Chef) ist? Ihre Sprache, das schilderten Lehrkräfte der Ludwigshafener Schule in einem Brief an die Schulaufsichtsbehörde, sei derart beleidigend und verroht, dass manche Lehrerin darüber nachdenkt, das Handtuch zu werfen.

De facto ist es auch die Gewalt beschreibende und Gewalt verherrlichende Sprache von Aykut Anhan alias Haftbefehl, die die Jugendlichen verwenden. Ihre Diktion klingt zuweilen radikal, verkürzt und bietet kaum Raum zur Differenzierung. Wer am Rande des Amokalarms in Ludwigshafen vor zwölf Tagen mit Schülern in Kontakt kam, konnte das hören. Manche Schüler und Schülerinnen sprechen im ganz normalen Leben mitunter so, als würden sie gerade einen Rap-Text vortragen.

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Haftbefehl transportiert in seinen Tracks aber nicht nur einen anderen Stil, sondern auch Botschaften, die politisch verfangen. So griff er in einem Text aus dem Jahr 2015 den Rothschild-Mythos und damit die jüdische Weltverschwörung auf. Das wurde zwar in einschlägigen Feuilletons breit diskutiert, kam aber bei den Schülern weniger an. Haftbefehl befeuert mit Zeilen wie „Und ticke Kokain für die Juden von der Börse“ Antisemitismus, weil er mit Klischees und Vorurteilen spielt. In Teilen unerträglich empfinden Kritiker der Doku, das dort vermittelte Frauenbild, das von Haftbefehls Gattin Nina Anhan verkörpert wird. Er, der harte, dominante und seit 25 Jahren täglich koksende Rapper, der daheim zum Schoßhund wird, während sie mit dem Lappen in der Hand den Küchentisch abwischt und die Kinder von ihm fern hält, wenn wieder eine Nase Kokain fällig ist.

Dass Lehrerinnen in der Karolina-Burger-Realschule plus beklagen, von den Jugendlichen als „Schla..“ und „F...“ bezeichnet zu werden, kommt nicht völlig überraschend, wenn „Bitch“ ein Wort ist, das auch in Haftbefehls Songs zum Kampfbegriff wird. Aykut Anhans Mutter sagte ihre Teilnahme an der Doku offensichtlich im letzten Augenblick ab. Man hätte sie schließlich nach ihrer Verantwortung fragen können für einen 13-Jährigen, der mit der Kokserei beginnt.

Sollen hier Texte von Haftbefehl als Unterrichtsmaterial dienen? Darüber gibt es jetzt eine Diskussion zwischen Lehrern und Schülern, die das teilweise fordern. © Marijan Murat/dpa

Müssen Haftbefehl und seine Texte jetzt zum Unterrichtsstoff an der Karolina-Burger-Realschule plus und im ganzen Land werden, weil der Deutsch-Kurde zum Sprachrohr einer jungen Generation von Deutschen geworden ist? Fakt ist: Drogensucht, soziale Ungleichheit, Anpassungsprobleme und Ausgrenzung gehören zur Lebensrealität der jungen Menschen. Bei Goethe erfahren sie zu diesen Themen eher wenig. Und heißt es nicht immer, man müsse die Kinder da abholen, wo sie sind? Es hätte – so sagen es jetzt Vertreter von Lehrerverbänden – wohl den Vorteil, dass Haftbefehls politische Narrative von Klischees befreit werden und auf diese Weise auch eine Entzauberung des drogenabhängigen Künstlers selbst stattfinden könnte. Ansonsten, das ist die Befürchtung, endet das Bildungssystem wie der Film mit einer deformierten Nase als halbtoter Babo.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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