Zum Kommentar „Aus Fakten lernen“ vom 7. August:
Irgendwann hat jeder mal die Faxen dicke, und bei mir ist das nach dem Lesen des Kommentars von Stefanie Ball der Fall! Was sie uns Lesern hier als „Fakten“ über das Versagen der Schulen während der Corona-Zeit verkaufen will, sind die von der neuesten Ifo-Studie eruierten Meinungen und Gefühle von Eltern, die aus deren Beobachtungen und Erfahrungen während des Schul-Shutdowns herrühren. So weit, so gut!
Die „Fakten“ über Lehrer allerdings werden mit dem Wörtchen „wohl“ eingeleitet, das laut Duden eine Annahme oder Vermutung ausdrückt. Und nach Frau Balls Vermutung ist die Mehrheit der Lehrer*innen während der letzten Monate abgetaucht und hat sich nicht „hingebungsvoll um ihre Schüler gekümmert“. Abgesehen davon, dass ich mich nicht weiter über die schon oft thematisierten dürftigen digitalen Möglichkeiten an unseren Schulen auslassen will oder über die wenigen schwarzen Schafe in der Lehrerschaft – die es übrigens unter Journalisten ebenfalls geben soll und woanders „wohl“ auch –, möchte ich zuvorderst feststellen, dass Lehrer nicht gleich Lehrer bedeutet, denn jede Schulart hat ihr spezifisches Anforderungsprofil.
Als Lehrer an einem Mannheimer Gymnasium sehen meine „Fakten“ nach 19 Wochen Homeschooling inklusive der Oster- und Pfingstferien folgendermaßen aus: Ich hatte meine acht Klassen der Stufen fünf bis zehn sowie zwei Oberstufenkurse zu betreuen; das waren insgesamt 235 Schüler*innen. Jeden Donnerstag bekamen diese die vielfach selbsterstellten Aufgaben mit Begleitbrief für die folgende Woche sowie die selbsterstellten Lösungen der Vorwoche zugesandt. Die Vorgabe der Schule war, jedem/r meiner 235 Schüler*innen sowohl bis zu den Pfingst- als auch bis zu den Sommerferien mindestens ein persönliches Feedback zukommen zu lassen.
Die vielen Schüleranfragen und – grüße im Chat führten allerdings schnell dazu, dass diese Kommunikation immens zunahm. Zu all dem kam die ständige Sonderbetreuung der Abiturient*innen, zum Beispiel mit Zusatzübungen oder in bisweilen stundenlangen Einzelgesprächen. Zwei Wochen vor den Pfingstferien fanden die schriftlichen Abiturprüfungen statt, und das bedeutete ab diesem Zeitpunkt drei zusätzliche Erst- und Zweitkorrekturen; dazu kamen nach den Ferien 15 Seminarkurs- und sechs mündliche Abiturprüfungen inklusive deren Vorbereitung, von den vier halbtägigen Konferenzen in dieser Phase, den durchgängigen organisatorischen Aufgaben und der täglichen internen Kommunikation ganz zu schweigen!
Um dies alles bewältigen zu können, musste an Wochenenden und in den beiden Ferien durchgearbeitet werden. Dass dies alles mit dem Einsetzen des partiellen Präsenzunterrichts ab Mitte Juni nicht weniger wurde – ganz im Gegenteil –, erschließt sich jedem von selbst. Der erste freie Tag seit dem 16. März war der 30. Juli, also der Beginn der großen Ferien!
Mich würde angesichts des oben beschriebenen Arbeitspensums brennend interessieren, an welche Tageszeit Frau Ball gedacht hat, wenn sie fordert, (in meinem Fall 235) „Kinder müss(t)ten direkt angesprochen werden (gerne auch per Telefon)“. Die Nacht kann es „wohl“ nicht gewesen sein. Mehr Demut vor der Leistung von uns Lehrern täte unserer Gesellschaft und der Journalistengilde gut – und das nicht nur in dieser aufgeregten Corona-Zeit! (von Harald Gesell, Mannheim)
Info: Originalartikel unter https://bit.ly/2CD2y4t