Leserbrief gibt Anlass zur Verwunderung

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Zum Leserbrief „Deutschland schafft sich ab“ vom 8. Juni:

Der Leserbrief, insbesondere der zweite Absatz des Elaborats von Herrn Wunder gibt Anlass zur Verwunderung, daher eine kurze Klarstellung: Einen französischen Politiker namens Morgentau, der die Deutschen kastrieren lassen wollte, gab es nicht.

Wahrscheinlich meint Herr Wunder den ehemaligen US-amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau (Morgenthau mit th), der im August 1944, als der Sieg über Nazi-Deutschland absehbar war, einen Planentwurf für eine mögliche Nachkriegsordnung vorlegte. In diesem Entwurf schlug Morgenthau vor, Deutschland in einen Agrarstaat (ohne eigene Schwerindustrie) umzuwandeln, um langfristig zu verhindern, dass Deutschland wieder einen Angriffskrieg führen könne. Der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt lehnte den Entwurf, der nie in ein konkretes Planungsstadium kam, ab.

Allerdings wurde dieses Memorandum durch eine Indiskretion wohl im September 1944 publik gemacht und in den USA veröffentlicht. Die Nazi-Propaganda griff diese Veröffentlichung nur zu gerne auf, um den eigenen Durchhalteparolen Nachdruck zu verleihen, und stellte den Entwurf als Plan des „Weltjudentums“ zur „Versklavung“ des deutschen Volkes dar (hier hat auch die Kastrationslegende ihren Ursprung). Im Rahmen der rechtsextremen Geschichtsrevision, auch wegen der jüdischen Religionszugehörigkeit Henry Morgenthaus, wird der Entwurf zur Bildung antijüdischer Verschwörungstheorien instrumentalisiert.

Karl Klemm, Lampertheim

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