Für Großbritannien ist die derzeitige Krise in den Verhandlungen um ein künftiges Handelsabkommen zwischen London und Brüssel vor allem eine Frage der Souveränität. Doch wie kann das Land die gewünschte völlige nationale Unabhängigkeit erlangen, wenn es gleichzeitig einem ähnlichen Ansatz folgt wie die EU? Von den Ketten der EU wollte man sich auf der Insel mit dem Austritt befreien, die Regeln und Standards künftig selbst bestimmen. Und nun hakt es in den Gesprächen insbesondere an diesem Punkt.
Das Problem ist, dass die Europaskeptiker seit Jahren mit dem Versprechen lockten, man würde alles zum Nulltarif auf dem Silbertablett serviert bekommen. Die Fangrechte in britischen Gewässern wie auch zollfreien Zugang zum europäischen Markt bei gleichzeitig völliger Souveränität. Dieses Märchen konnte unmöglich zu einem Happy End führen. Die Dinge schließen sich nämlich aus. In einer verflochtenen Welt wie der heutigen herrscht nie völlige Autonomie, auch nicht dann, wenn man unter den Regeln der Welthandelsorganisation handelt.
Diese sind ebenfalls bindend, was von der britischen Regierung aber offenbar akzeptiert wird. Offenbar übertrumpft die Abneigung gegenüber der EU sowohl den gesunden Menschenverstand als auch den Blick auf die Realität. Es ist ein politisches Abwägen mit völlig ungewissem Ausgang. Boris Johnson steht vor der Wahl. Will er die heimischen Firmen und Landwirte so gut wie möglich schützen, müsste er Kompromisse eingehen und einem Deal zustimmen. Das Problem: Selbst mit einem Abkommen werden die Beeinträchtigungen und Umwälzungen, die das Königreich ab dem nächsten Jahr erleben wird, immens.
Ohne Deal droht derweil eine Katastrophe. Dann aber würde als Sündenbock die EU herhalten, Johnson könnte die Verantwortung abschieben. Will der Premier also seine eigene Position in der konservativen Partei und im Kreis der Europaskeptiker untermauern, könnte er tatsächlich den Sprung in den Abgrund wagen. Die Vergangenheit hat leider gezeigt, zu wessen Gunsten sich Boris Johnson in der Regel entscheidet.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Sprung in den Abgrund
Katrin Pribyl traut Johnson zu, den Deal auszuschlagen