Es gibt in der Politik nicht immer die Wahl zwischen „guten“ und „schlechten“ Entscheidungen. Manchmal bleibt nur die Alternative zwischen einer „schlechten“ und einer „noch schlechteren“ Lösung. Der Weiterbau der deutsch-russischen Gas-Pipeline Nord Stream 2 ist eine solche „schlechte“ Option.
Die Bundesregierung hat das Vorhaben durchgeboxt. Widerstände aus Ost- und Mitteleuropa, aus der EU-Kommission und zuletzt auch aus Frankreich hat sie lange Zeit ignoriert. Mit dem Etikett eines „rein wirtschaftlichen Vorhabens“ hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel praktisch einen Freifahrtschein verpasst.
Was die Kanzlerin außen vor ließ: Jedes ökonomische Groß-Projekt mit einer repressiven Macht wie Russland hat automatisch eine politische Dimension. Das gilt auch für Nord Stream 2, dessen Bau 2018 begann. Vier Jahre nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 hätte man wissen müssen, welchen Kurs Präsident Wladimir Putin einschlägt.
Die warnenden Hinweise aus Polen, der Ukraine oder dem Baltikum prallten in Berlin ab. Natürlich hatten die Länder auch wirtschaftliche Motive: Polen und der Ukraine brechen Milliarden-Einnahmen weg. Aber das Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn wiegt noch schwerer. Frankreich kritisierte 2019 zudem die zu hohe energiepolitische Abhängigkeit Europas von Russland. US-Präsident Joe Biden lehnt Nord Stream 2 aus ähnlichen Gründen ab.
Dabei ist die Gefahr der potenziellen Erpressbarkeit nicht der ausschlaggebende Punkt. Deutschland bezieht zwar rund 50 Prozent seiner Gasimporte aus Russland. Sollte Moskau jedoch den Stecker ziehen, ließe sich dies relativ schnell durch andere Anbieter ausgleichen. Jenseits dessen geht es um eine politisch-ethische Grundfrage: Darf man mit einer Regierung Geschäfte machen, die Oppositionelle und kritische Journalisten drangsaliert oder gar tötet? Die Giftgasattacke auf Alexei Nawalny und dessen Verhaftung machen dies deutlich.
Dennoch: Nord Stream 2 sollte fertig gebaut werden. Es ist zugegebenermaßen eine „schlechte“ Lösung. Aber „noch schlechter“ wäre es, den Vertrag zu brechen. Ein jahrelanger Rechtsstreit mit milliardenschwere Schadenersatz-Forderungen von den beteiligten europäischen Firmen käme hinzu.
Europa und Amerika sollten über andere Instrumente nachdenken. Russland wird in der letzten Phase von Putins Herrschaft immer autoritärer. Wachsende Teile vor allem der jungen Generation wollen sich Korruption und autokratisches Durchregieren nicht mehr gefallen lassen. Das Regime dürfte noch mehr auf eine Politik der eisernen Faust setzen.
Der Westen sollte dies scharf beobachten. Wer auch immer an massiver Unterdrückung oder Gewalt teilnimmt, sollte mit Einreisesperren oder dem Einfrieren von Konten rechnen müssen – gleich, ob es sich um Personen oder Unternehmen handelt.