Schüler und Eltern leiden immer stärker unter dem Lockdown. Die Betreiber von Restaurants, Friseurläden, Einzelhandelsgeschäften sowie Kulturschaffende haben Existenzängste. Wer von Kurzarbeit betroffen ist oder seinen Job verloren hat, muss hart rechnen. Insofern ist der Ruf nur zu verständlich: Wann hört der Spuk endlich auf? Wann gibt es einen Fahrplan, der schrittweise Lockerungen vorsieht?
Diese Forderungen sind umso nachvollziehbarer, als Deutschland beeindruckende Erfolge im Kampf gegen das Virus errungen hat. Durch den Lockdown ist die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen einer Woche – die sogenannte Sieben Tage Inzidenz – auf rund 70 gesunken. Ende vergangenen Jahres waren es knapp 200. Einzelne Landkreise haben die Sieben-Tage-Inzidenz sogar auf Werte zwischen 20 und 30 gedrückt. Das liegt unter der magischen Schwelle von 50, die die Politik als Zielmarke für punktuelle Lockerungen angibt.
Kaum ein Land in Europa weist bessere Zahlen auf als Deutschland. Es sind die Früchte von Disziplin und Leidensfähigkeit. Möglich war dies nur, weil ein Großteil der Bevölkerung mitgemacht hat. So verführerisch der Gedanke an Lockerungen ist: Es wäre jetzt der falsche Weg. Viele Länder von Spanien bis Israel, die nach dem ersten Lockdown im Frühjahr die harten Maßnahmen zurückgefahren haben, haben dies später bereut.
Österreich hat sich seit Montag auf ein riskantes Spiel eingelassen: Geschäfte, Dienstleistungsbetriebe und Schulen sind wieder auf, wenn auch zum Teil mit verschärfter Masken- und Testpflicht. Die Erleichterungen kommen, obwohl die Alpenrepublik mit rund 108 eine wesentlich höhere Sieben-Tage-Inzidenz aufweist als Deutschland. Es ist zweifelhaft, dass die Rechnung aufgeht. Zum einen, weil mehr Kontakte die Ausbreitung des Virus begünstigen. Zum anderen, weil aggressive Mutationen wie der britische oder südafrikanische Typ das Ansteckungstempo erhöhen. Wir müssen weiter auf Sicht fahren. Es ist besser, den Lockdown ein bisschen länger denn nötig durchzuhalten, als die Barrieren zu früh abzuräumen. Dann waren möglicherweise alle Anstrengungen umsonst.
Deshalb gehen Vorstöße, einen Zeitplan für Lockerungen aufzustellen, an der Realität vorbei. Nach dem Motto: Landkreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von – sagen wir – bis zu 40 oder 50 können Läden, Restaurants und Schulen wieder öffnen. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow ist im Sommer diesem Irrtum aufgesessen. Sein Argument: Viele Regionen in seinem Bundesland seien Corona-frei, daher sei dort ein Lockdown fehl am Platz. Doch Menschen sind unterwegs – und das Virus reist mit. Mittlerweile hat Ramelow seine Einschätzung eingesehen und sich entschuldigt.
Man muss nicht unbedingt die Anti-Corona-Keule eines autokratischen Landes wie China anwenden. Der pazifische Inselstaat Neuseeland hat vorgemacht, wie die Pandemie in Schach gehalten werden kann. Kernpunkte: Siebenwöchiger knallharter Lockdown, Ausgangssperren, strenge Tests und flächendeckende Kontaktverfolgung, zeitweise Einreisesperre. Es gab nur rund 2300 Ansteckungen und 25 Tote. Heute verzeichnet das fünf Millionen Einwohner zählende Land keine Neuinfektionen mehr. Auf Deutschland übersetzt heißt dies: Je mehr wir uns der Sieben-Tage-Inzidenz von null nähern, desto eher können wir über verantwortungsvolle Lockerungen reden.