Zwei Wochen nach der Bundestagswahl muss die Union nach 16 Jahren wieder Opposition lernen, während Grüne und FDP nach langer Abstinenz Bock aufs Regieren haben. Anders ausgedrückt: Die einzige Konstante bleibt die SPD, die seit 1998 nur vier Jahre keine Minister stellte. Natürlich hat der Sieg von Olaf Scholz bei den Genossen den Ausstoß der Glückshormone vervielfacht. Anders als CSU-Chef Markus Söder auf einem früheren PR-Foto würden sie am liebsten nicht nur einen Baum, sondern gleich die ganze Welt umarmen. Außer Olaf Scholz. Dafür muss man sich nicht sorgen, dass die Freude seine Sinne trübt.
Scholz müsste sich jedenfalls sehr dumm anstellen, um das Kanzleramt zu verspielen. Grüne und FDP können das Druckmittel Jamaika nicht mehr anwenden. Eine Koalition mit der Union wäre nicht zu vermitteln. Doch ein Problem bleibt: Die SPD hat den Aufbruch bisher nicht im Programm und auch bis zum Wahltag keine großen Experimente angekündigt. Das hat sich kurzfristig ausgezahlt. Die jungen Leute wählten zwar die Grünen und die FDP, die Zahl der Rentner ist aber viel größer. Und die setzten diesmal mehr auf die SPD als auf die Union. Auch dass die neue Bundestagsfraktion jünger und diverser ist, liegt nicht an einer progressiven Nachwuchsförderung. Viele der hinteren – also aussichtslosen – Listenplätze wurden mit Jusos aufgefüllt, die nicht so prominent sind wie Kevin Kühnert. Viele tragen interessante Namen wie der Lörracher Takis Mehmet Ali, der als Migrantenkind mit Hauptschuldbildung plötzlich auf die Idee kam, in die Politik zu gehen. Und auch die Mannheimerin Isabel Cademartori hätte ohne den Scholz-Effekt das Direktmandat in der SPD-Hochburg vielleicht verfehlt. Jetzt stellen die Jusos auf einmal ein Viertel der Fraktion.
Und sie stellen auch schon Ansprüche, wollen mit am Tisch sitzen, wenn die Koalitionsverhandlungen beginnen. Scholz hat zwar im Wahlkampf wie die männliche Ausgabe von Angela Merkel geredet und gerautet, aber das Projekt Zukunft kann nur dann gelingen, wenn die SPD vom Wahlkampf- in den Regierungsmodus wechselt. Grünen-Chef Robert Habeck hat es frei nach Willy Brandt auf den Punkt gebracht: Die (SPD-)Politiker müssen mehr Risiko wagen und die Menschen einsehen, dass die neue Regierung dann auch Fehler machen wird. Die Politik muss sich neu erfinden. Steuern hoch, oder runter? Das sind wichtige Fragen, aber sie entscheiden nicht darüber, ob wir unseren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Welt hinterlassen werden.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Neue Regierung muss mehr Risiko wagen