Verrückte Welt: Seine eigene Partei verschmähte Olaf Scholz als Parteichef und wählte lieber das seltsame Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Doppelspitze. Und zum Kanzlerkandidaten ernannten die Genossen den von ihnen politisch demontierten Hanseaten nur, weil es keinen anderen gab und Angela Merkels Erbe in unerreichbarer Ferne lag. Scholz hatte also keine Chance – und nutzte sie.
Mag sein, dass es am Ende doch nicht für ihn reicht, auch die Umfragen der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen sind nur Momentaufnahmen, die einen Trend anzeigen. Und der kann sich in diesen volatilen Zeiten schnell ändern. Aber schon jetzt muss es Genugtuung für Scholz sein, dass die große Mehrheit der Deutschen ihm das Gütesiegel „kanzlertauglich“ ausstellt. Während das Vertrauen in den SPD-Politiker von Umfrage zu Umfrage wächst, sinkt das Ansehen des CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet immer mehr – und nähert sich den Tiefstwerten Annalena Baerbocks an.
Davon allein kann sich Scholz natürlich nichts kaufen, am 26. September wählen die Bürger ja eine Partei und nicht den Kanzler. Und da gab es bisher nur zwei einigermaßen realistische Szenarien: Die Union landet auf Platz eins und bildet mit Grünen und FDP eine Koalition. Oder: Den Grünen reicht der zweite Rang, um die Kanzlerin zu stellen. Die Ampel mit der SPD und der FDP würde auf Grün geschaltet. Den Sozialdemokraten würde im besten Fall also nur die Rolle des Mehrheitsbeschaffers zufallen.
Eine rote Ampel mit Scholz galt dagegen so wahrscheinlich wie eine Hitzewelle in Sibirien. Die SPD saß tief im Umfragekeller bei 15 bis 16 Prozent fest. Doch jetzt springt sie im aktuellen Politbarometer gleich um drei Zähler hoch und liegt gleichauf mit den Grünen bei 19 Prozent. Ein Punkt mehr bei der Bundestagswahl könnte also für die Kanzlerschaft reichen. Zur Erinnerung: 2017 erzielte die SPD auch nur 20,5 Prozent – das war ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Die SPD hat sich also umfragemäßig seitdem nicht verbessert und ist nur deshalb noch im Rennen um die Kanzlerschaft, weil auch die Unionsparteien im Sinkflug sind. An der Wahlurne holten CDU/CSU vor vier Jahren für damalige Verhältnisse bereits katastrophale 32,9 Prozent, in der aktuellen Umfrage erzielen sie dagegen nur 26 Prozent.
Beide Volksparteien verlieren also immer mehr Wähler, weil die Parteienbindung der Deutschen schwächer wird. Als einzige Partei haben nur die Grünen – sie stellen im Bundestag die kleinste Fraktion – in den Umfragen konstant zugelegt und dies bei der Europawahl 2019 mit 20,5 Prozent auch bestätigt. Deshalb werden die Grünen nach der Bundestagswahl der entscheidende Faktor sein, wenn es um die Regierungsbildung geht: Jamaika oder Ampel – die Grünen können den Daumen heben oder senken. Vom Deutschland-Bündnis träumen auch Union und Liberale, es wäre aber für die SPD nur eine um die FDP erweiterte Fortsetzung der großen Koalition.
Was sich bereits 2017 abzeichnete, könnte also Wirklichkeit werden: Für Zweier-Bündnisse gibt es wegen der Zersplitterung der Wählerstimmen womöglich keine Mehrheit mehr. Ob drei Partner sich auf ein starkes Klimaschutz-Programm einigen können, ist für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung. Jamaika galt 2017 noch als interessante politische Versuchsanordnung, doch jetzt kann sich Deutschland keine Experimente leisten, die schief gehen.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kanzler Scholz?
Walter Serif über das aktuelle Politbarometer: Bei der Bundestagswahl können vielleicht sogar 20 Prozent reichen, um Regierungschef zu werden