Manchmal hilft es, den Blick weit zurückzurichten: Vor mehr als 2000 Jahren schrieb Cicero seine Schrift „De officiis“, zu Deutsch: Von den Pflichten. Adressiert war sie an seinen Sohn und handelte davon, was im Miteinander zu beachten sei. Dass es Pflichten gibt, einen moralischen Anspruch, der individuelles Handeln an allgemeinen Regeln auszurichten fordert, stand für den alten Römer außer Frage. Die ethisch-philosophische Tradition blieb diesem Prinzip treu. Ein wiederkehrendes Motiv dabei sind sogenannte absolute Pflichten, die den Erhalt der Gemeinschaft betreffen und deshalb auch erzwungen werden können.
Sieht man ein, wieso uns das noch heute betrifft? Ethische Debatten sind differenziert und scheinen oft abstrakt, sie drehen sich aber stets um einen konkreten, bedeutsamen Kern. Die Diskussion um eine allgemeine Pflicht, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen, geht weiter. Gegen eine solche wird argumentiert, man solle Menschen zu nichts zwingen, was sie aus diversen Gründen nicht wollten, schon deshalb, um keine allgemeine Verweigerungshaltung – offenbar eine Art von Trotz – zu stärken.
Wie aber, wenn immer mehr Leben auf dem Spiel steht und Grundlagen des Zusammenlebens, der ohnedies bedrohte Gemeinsinn, tangiert sind? Die Vereinigung der Kinderärzte meint, ein weiterer Lockdown sei unbedingt zu vermeiden; vor allem sollten Schulen und alle Einrichtungen für Kinder offenbleiben, um deren Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Wenn es dazu einer Impfpflicht bedürfe, müsse sie eben sein. Liegt dem ein überzogener moralischer Anspruch zugrunde? Eher schon ist es Pragmatismus, eine nüchterne Abwägung von Vor- und Nachteilen für die Allgemeinheit, die aus dieser Forderung spricht.
Kinder sind unsere Zukunft, heißt es. Impfgegner sind es nicht. Richtig ist, dass eine Impfung nicht in jedem Fall eine Infektion verhindert; sicher ist aber auch, dass Ungeimpfte stärker zur Verbreitung des Virus beitragen und Mitmenschen mehr und öfter gefährden. Cicero wollte seinen Sohn übrigens vor Selbstbezogenheit, vor einer vornehmlich an Lebenslust und Selbstentfaltung orientierten Daseinsform warnen. Auch Individualität setzt einen allgemeinen Rahmen, setzt Regeln voraus, denn Menschen leben nun mal in Gemeinschaft und haben davon Vorteile. Besänne man sich mehr auf moralische Pflicht, wäre eine Corona-Impfpflicht unnötig. Im Zweifel hilft vernünftiges Abwägen: Ohne Impfung kann es mit der Selbstentfaltung schnell vorbei sein, womöglich für immer.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Auf moralische Pflicht besinnen - dann braucht es auch keine Corona-Impfpflicht
Thomas Groß über moralische Fragen in der Corona-Pandemie