Wenn sich die schwere Eingangstür hinter einem schließt, weiß man nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Alles hängt voll, ganz eng, jede Ecke ist genutzt. Geweihe und Gewehre – damit geht es los im Vestibül von Schloss Erbach.
Schloss Erbach
Anschrift: Schloss Erbach, Schlosshof (Alter Bau), Marktplatz 7, 64711 Erbach, Telefon 06062/809360.
Öffnungszeiten: Die Besichtigung der Gräflichen Sammlungen ist nur mit Führung möglich; im Dezember und 1. bis 6. Januar täglich 14 Uhr, an Adventswochenenden Freitag bis Sonntag 14, 15, 16 und 17 Uhr. März bis Oktober: Montag bis Freitag 11, 14 und 16 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertage 11, 14, 15 und 16 Uhr. Die Schlossräume sind nicht beheizt.
Eintritt: Erwachsene 6 Euro, Rentner und Gruppen von 20 bis 50 Personen 5 Euro, Schüler und Studenten 3,50 Euro, Schüler- und Studentengruppen ab 20 Personen 3 Euro, Familien 13 Euro. Kombikarten gibt es mit dem Deutschen Elfenbeinmuseum und dem Schöllenbacher Altar, die im gleichen Schloss zu sehen sind.
Anreise: Mit dem Auto über die B 45 (Hanau-Eberbach), die B 47 (Worms-Würzburg) oder die B 460 (Heppenheim-Erbach) nach Erbach. Rund um das Schloss zahlreiche kostenlose Parkplätze, zu Fuß maximal 800 Meter. Mit der Bahn von Mannheim/Heidelberg nach Eberbach, dort Anschluss nach Erbach. Weiter zu Fuß über den gegenüber dem Bahnhof befindlichen Treppenabgang zum Handwerkerhof oder ohne Treppen nach rechts über die Straße „Bahnhofsplatz“, die Alte Poststraße und die Bahnstraße zum Marktplatz.
Besondere Veranstaltungen: Erbacher Schlossweihnacht, großer Markt an den Adventswochenenden mit Bühnenprogramm. Sonderführung „Nachts im Schloss“ am 7. und 14. Dezember, 18.15 bis 19.15 Uhr, Musik zur inneren Einkehr – Advent am Schöllenbacher Altar am 13. und 20. Dezember, 18 bis 18.45 Uhr. Kinderführungen am 7., 14. und 30. Dezember, 14 Uhr. pwr
Man erfährt von Schicksalen – Tierschicksalen. Beispielsweise von jenem Perückenbock, dessen einstiger Kopfschmuck an einer Wand drapiert ist. Der Rehbock hatte wegen einer Krankheit kein Sexualhormon und damit kein Geweih mehr bilden können. Stattdessen wucherte der Bast auf seinem Kopf wie eine überdimensionierte Perücke, wuchs über die Augen. „Er hat nichts mehr gesehen, nicht essen und trinken können, ist daher verendet“, erklärt Schlossführerin Hanne Aulich.
Bildung für Landeskinder
Die „Abnormitätensammlung“ weist noch mehr solcher besonderen Exemplare auf, darunter zwei völlig miteinander verhakte Geweihe. „Da haben zwei Böcke während der Brunft so heftig miteinander gekämpft, dass sie nicht mehr voneinander loskamen – sie sind verhungert“, erzählt Aulich. Zu jedem Geweih weiß sie eine Geschichte zu erzählen, lässt sich an ihnen doch erkennen, ob ein Tier krank war, weshalb sich die Kopfzier gar nicht bildet, nicht verkalkt oder sich verformt. Doch warum stellt man so etwas aus? „Unser Graf war großer Sammler und naturkundlich höchst interessiert – aber er wollte die Sachen auch seinen Landeskindern zeigen, damit sie sich bilden können“, sagt die Schlossführerin über Graf Franz I. zu Erbach-Erbach (1754-1823). Und davon geprägt ist seine gesamte, üppige Sammlung. „Aber es handelt sich nicht um Jagdtrophäen, sondern um naturhistorisches Interesse“, stellt sie klar. Vieles sei dem Grafen geschenkt worden.
155 abnorme Geweihe und Gehörne zeigt er, dazu rund 500 außergewöhnlich starke Exemplare. Die Waffen reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, etwa eine Hakenbüchse von 1518 oder Musketen aus dem Dreißigjährigen Krieg. „Da sind Stücke dabei, die eignen sich eher zur Repräsentation als zum Schießen“, verweist Aulich auf teils mit kostbaren Intarsien versehene oder reich verzierte Büchsen und Stutzen, Lunten-, Rad- und Steinschlossgewehre.
Alexander-Büste
72 besonders kapitale, mehrere hundert Kilo schwere Geweihe finden sich im ersten Obergeschoss, darunter ein 30 000 Jahre altes Hirschgeweih aus Nordirland. „So groß werden die Tiere heute gar nicht mehr, dafür fehlt die Lebensgrundlage, der Lebensraum“, erläutert Aulich. Dazu hängen kostbare Prunkwaffen, seltenes Jagdzubehör oder Parforcehörner an den Wänden. Und der Blick nach oben lohnt: Hier beeindruckt eine wunderbare Holzdecke mit Schnitzereien und Einlegearbeiten aus Eiche, Nuss- und Kirschbaum. „Die Decke wurde aus dem nach der Reformation aufgelösten Kloster Roth um 1863 nach Erbach gebracht“, sagt Aulich.
Von dem 20 Meter langen Saal geht es in kleinere, aber umso exquisiter ausgestattete Räume: die zwei „Römischen Zimmer“ sowie das etruskische Kabinett. Das passt dazu, wie man den Grafen bereits beim Weg zum Schloss kennenlernt. Das Denkmal auf dem Schlossplatz, 1874 von seinem Enkel errichtet, zeigt ihn nicht als Regenten, sondern in der Pose eines römischen Staatsmannes, mit Tunica, Toga und Sandalen an den Füßen.
So sieht sich der Graf zu Lebzeiten gerne, denn er wohnt, arbeitet und residiert inmitten von Antiken. Vasen von 500 bis 300 vor Christus, römische Münzen, Mosaiken, Köpfe berühmter römischer Herrscher, Statuen ohne Ende entdeckt man hier. Herausragend die Büste Alexanders des Großen aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, die den Feldherrn als göttergleichen Jüngling zeigt. „Eines unserer berühmtesten Exponate – das gibt es so nur in Athen, Berlin und bei uns, wobei bei uns die Nase nicht abgebrochen ist“, hebt die Schlossführerin hervor.
Auch einen reich verzierten etruskischen Thronsessel hat sich Graf Franz I. nachbilden lassen – als Schreibtischstuhl. Dort, wo er Audienz hält, dominiert die Sitzstatue des römischen Kaisers Trajan den Raum. „Da haben die Odenwälder Bauern gestaunt, als sie zu ihrem Herrscher kamen“, sagt Aulich schmunzelnd. Wie Trajan in der Geschichtsschreibung als gerechter, fortschrittlicher Kaiser gilt, so will auch der Graf gesehen werden.
Schulen gegründet
Und tatsächlich: „Er hat viel für seine Landeskinder getan“, betont die Schlossführerin. Er gründet und baut Schulen, legt Wert auf ganzjährigen Unterricht anstelle der „Winterschule“, gründet eine eigene Spar- und Leihkasse zur Ankurbelung der Wirtschaft, initiiert die Ansiedlung der Elfenbeinschnitzerei und einer Leinenfabrik. Besonders unterstützt er aber die Bauern. Er schafft den Brauch ab, dass man Felder zur Erholung brach liegen lässt, sondern rät zum Anbau von Klee als natürliche Düngung. „Bauern, die dem folgten, wurden mit Medaillen ausgezeichnet“, erzählt Aulich.
Damit stärkt der Graf seinen Ruf als Reformer und gebildeter Mann. Das ist er tatsächlich. Sein Vater Georg Wilhelm stirbt zwar, als Franz kaum drei Jahre alt ist, im Alter von 70 Jahren. Doch seine erst 25-jährige Mutter kümmert sich intensiv um eine gute Erziehung des einzigen Sohnes, engagiert mehrere gute Lehrer – für Sprachen, Religion, Diplomatie, Mathematik, Wappenkunde.
Die Hauptaufgabe fällt Christian Friedrich Freund von Sternfeld (1730-1803). Mit ihm bricht Franz 1769, also im Alter von 15 Jahren, zunächst zum Studium nach Straßburg und Lausanne, dann zur „Grand Tour“ auf – die einst obligatorische Reise adeliger Söhne durch Mitteleuropa und oft auch ins Heilige Land. Sechs Jahre, bis 1775, ist der künftige Regent Erbachs unterwegs.
Besuch beim Kurfürsten
Auch Mannheim wird 1769 eine erste und wichtige Station. „Hier sah Franz erstmals die Antikensammlung im Schloss, und hier lernt er Andreas Lamey, den Sekretär der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften und Betreuer der Mannheimer Antikensammlung, kennen“, sagt Anja Kalinowski, wissenschaftliche Leiterin der Gräflichen Sammlungen. „Lamey schenkte Franz die ersten antiken Sammlungsstücke, nämlich Münzen, und sorgte dafür, dass er während der Grand Tour mit bedeutenden Persönlichkeiten in Kontakt kam“, so Kalinowski.
Und nicht nur das: Auf dem Weg macht Franz laut Kalinowski im Mai 1769 Station in Schwetzingen, der Sommerresidenz des Kurfürsten, und erweist dort Carl Theodor seine Reverenz. Bei der Gelegenheit verleiht der Kurfürst dem Grafen den pfälzischen Löwenorden, den er zum 25. Jahrestag seines Regierungsantritts gestiftet hat. „Diesen trägt er auf einem Jugendporträt im Grünen Salon“, so die wissenschaftliche Leiterin. In späteren Jahren seien mehrere Opernbesuche und Bücherausleihen in der Bibliothek im Mannheimer Schloss gefolgt.
Carl Theodor ist von Voltaire geprägt, dem großen französischen Philosophen der Aufklärung, und bekannt als großer Freund der Kultur und der Wissenschaft – und damit Vorbild des 30 Jahre jüngeren Erbacher Grafen. Auch Franz trifft Voltaire auf seiner Reise, dazu viele Geisteswissenschaftler und Naturforscher, doch ebenso Friedrich den Großen, den Preußenkönig.
Zwischendurch wird die Mutter unruhig, weil der Sohn so lange weg ist. Aber er bittet inständig, noch nach Italien zu dürfen. „Ohnedies wissen meine Frau Mutter, dass ich mit der Neigung zu den Alterthümern geboren bin“, bittet er um Verständnis. Die Tour wird ihm gewährt. Dort erwirbt Franz Münzen, seine Begeisterung für Antiken wächst. Aber dann endet die Geduld der Mutter – Franz muss zurück, 1775 übernimmt er die Regentschaft. Er startet nicht nur sofort Reformen, heiratet und bekommt sieben Kinder, sondern lebt seine Sammelleidenschaft aus. 1791 startet er, nach der „Grand Tour“, seine zweite Italienreise. Die bereitet er intensiv – etwa durch Briefwechsel mit Andreas Lamey aus Mannheim – vor. Zurück kommt er mit 31 Büsten, drei Statuen, Tongefäßen und Münzen – heute die einzige Antikensammlung des 18. Jahrhunderts auf deutschem Boden, die sich in ihren ursprünglichen Präsentationsräumen erhalten hat. Die Römer-Begeisterung des Grafen geht so weit, dass er nicht nur archäologische Ausgabungen entlang des durch den Odenwald verlaufenden Limes anregt und fördert, sondern sich daran selbst beteiligt.
Verwandt mit Oraniern
„Franz beschränkte sein Interesse aber nicht allein auf die Antike“ betont Kalinowski, wenngleich er sie als „Lieblingsfach meiner Nebenzeit“ bezeichnet. Auch chinesisches Porzellan, Glas, Keramik und kostbare Möbel finden sich auf dem Schloss, präsentiert in mehreren Salons, die alle heute noch so eingerichtet sind wie zur Zeit des Grafen. Sie vermitteln einen guten Eindruck von der privaten Wohnwelt der Adelsfamilie, etwa der „Grüne Salon“ oder der „Rote Salon“, bespannt mit kostbaren Seidentapeten sowie versehen mit aufwendig gearbeitetem Parkettfußboden. Der als Speisesaal genutzte Oraniersaal zeigt die für den Historismus typische Mischaufstellung der Möbel. „Er ist verwandt mit dem Hause Oranien-Nassau der Niederlande, das wollte er unbedingt zeigen“, sagt Aulich.
Den prächtigsten Teil der Sammlung stellt der Rittersaal dar, unter gotischem Kreuzgewölbe über und über gefüllt mit 39 Rüstungen, 29 Rüstungsteilen, 100 Schwertern, Degen und Dolchen, dazu 60 Stangenwaffen und unzählige Kettenhemden, Helme, Schilde. Sechs Pferderüstungen werden gar auf lebensgroßen Holzmodellen ausgestellt. Darunter sind Kuriositäten wie eine Lederrüstung der Medici oder eine Rüstung des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf aus dem Dreißigjährigen Krieg. Man fragt sich, was ein so humanistisch gebildeter Graf an den martialischen Stücken findet, doch für ihn gehörte eben auch das zu umfassender Bildung dazu. „Er verfolgte das Ziel, Geschichte zu konservieren und für die Zukunft erfahrbar zu machen“, so Anja Kalinowki.
Vom Land gekauft
Seine Schätze hat er nicht nur zusammengetragen, sondern alle persönlich und handschriftlich katalogisiert – in teils aufwendig gestalteten, mit Blattgold verzierten Katalogen. „Beschreibung meiner Wohnzimmer“ hat Graf Franz etwa einige Bände betitelt, und stets ist sein Ziel, zugleich Wissen zu vermitteln.
Stets hoffte er, seine Schätze würden „nie verstossen und verschleudert“, wie er seinem Sohn Karl aufgibt und ihn mahnt: „Schütze und erhalte sie!“ Doch nach dem Tod des Grafen 1823 nimmt sich nicht der Sohn, sondern sein Enkel Eberhard XV. (1818-1884) intensiv der Sammlungen an und ergänzt sie.
Doch fast wäre alles doch „in alle Winde zerstreut worden“, sagt Kalinowski. Um zu verhindern, dass sie zerschlagen wird und in Einzelteilen auf den Kunstmarkt gelangt, kauft das Land Hessen von den Nachkommen 2005 einen Großteil der Sammlung und 2018 durch Drittmittel den Rest auf. Daher könne man „in ihrem Gesamterscheinungsbild in nahezu unveränderten Räumen“ präsentieren, freut sich Kalinowski. „Ein einzigartiger Glücksfall!“