Heidelberg. „Zeitgenossen“ heißt die Überschrift zum diesjährigen Heidelberger Streichquartettfest, das schon Ende Januar den „Frühling“ einläutet - das gleichnamige Heidelberger Klassik-Festival. Im Mittelpunkt steht selbstverständlich „Ludwig van“. Der ewig aktuelle Beethoven ist immer Zeitgenosse, ob es um das frühe 19. oder das 21. Jahrhundert geht. Wir sprechen mit Oliver Wille, er ist Geiger, Hochschullehrer, Festspielleiter und beim Streichquartettfest für die Workshops zuständig.
Schon 1989 zählte Wille zu den Gründungsmitgliedern des Kuss Quartetts, das nach wie vor besteht und im Beethoven-Jubiläumsjahr (beim Label Rubicon Classics) eine üppige CD-Box publizieren wird: mit sämtlichen Quartetten, live in Tokio eingespielt.
Das Streichquartettfest findet vom 23. bis 26. Januar in der Heidelberger Alten Pädagogischen Hochschule statt (Näheres unter www.streichquartettfest.de.
Herr Wille, Beethoven beschäftigt derzeit Deutschland. Selbst die GroKo in Berlin, die sonst nicht alle ihre Hausaufgaben macht, erwähnt im Koalitionsvertrag die „nationale Aufgabe“, das Jubiläumsjahr würdig zu feiern. Was kann das Heidelberger Streichquartettfest da noch beitragen?
Oliver Wille: Es kann nicht allein darum gehen, auch etwas um Beethoven herum zu gestalten, nur weil es alle derzeit tun. Aber Beethoven lohnt sich immer! Der komplette Streichquartettzyklus wird zwar nicht zu hören sein, doch wir nehmen das Umfeld in den Blick, Komponisten, die Beethoven womöglich auch beeinflusst haben. Häufig wissen wir gar nicht so viel darüber. Und wir werden Werke des 20. und 21. Jahrhunderts aufführen, die auf ihre Weise – nach Beethovens Maßstab – wieder aufbrechen, das Leben beleuchten und hinterfragen.
Von den frühen Bonner Jahren Beethovens ist nicht besonders viel bekannt.
Wille: Wir greifen hinein in die Wundertüte seiner Bonner Zeit, hören, wie er musikalisch groß geworden ist. Mit Streichquartetten hat er ja – obwohl man teilweise von seinen „frühen“ spricht – erst ziemlich spät begonnen, 29 Jahre alt war er da schon. Sein Opus 1 sind Klaviertrios, für die ihm Haydn auf die Mütze gab – er fand sie erstaunlicherweise nicht adäquat. Für seine ersten Streichquartette wollte Beethoven vielleicht auch deshalb sicher gehen, starke Werke zu schreiben. Die Quartette Opus 18 sind zudem der letzte Sechserpack der Streichquartettgeschichte, also geht hier im Beginn auch etwas zu Ende.
Dass man Beethoven als Ahnherr aller Avantgarde bezeichnet hat, liegt ja zum guten Teil an den Quartetten. Dabei kommt er eher vom Klavier her.
Wille: Die Vierstimmigkeit gibt ihm vielfältigste Möglichkeiten. Nur ein Beispiel: Im „Heiligen Dankgesang…“ aus Opus 132 kann man verstehen, dass sich ein Akkord zwar eigentlich am besten balancieren lässt, wenn von unten nach oben die Intervalle kleiner werden, in Anlehnung an die Obertonreihe. Doch besondere Momente sind nun umgekehrt: Es entsteht so in der Tiefe eine Dichte, welche die Streichinstrumente besonders gut hörbar machen können. Beethoven erfindet auch Neues, es gibt für seinen Weg, Quartettmusik zu schreiben, eigentlich keine Vorbilder. Und jedes Stück ist so einmalig, ich frage mich oft: Wie kann jemand derart kreativ sein?
Als Quartettspieler sind Sie ein bisschen vorbelastet, aber würden Sie die alte Formulierung von der „Königsdisziplin“ der klassischen Instrumentalmusik für richtig halten?
Wille: Das ist zwar ein ziemlich abgegriffenes Wort, aber in der Kammermusik ist die Quartett-Gattung bestimmt eben das und hat im 19. und 20.Jahrhundert für hochwertigstes Repertoire gesorgt hat.
Beethoven als Mann der Avantgarde bricht hauptsächlich in seinen späten Streichquartetten durch. Was ändert sich da noch einmal?
Wille: Es ist ein konsequenter Weg. Von Anton Webern existiert ein wunderbarer Vortrag aus den 1930ern, den ich beim Unterrichten oft zitiere. Webern möchte über die Moderne sprechen, über Berg und Schönberg, er beginnt jedoch mit Beethoven und dessen Opus 18: um zu zeigen, dass es sich hier um den Höhepunkt des „klassischen“ Stils handelt. Er reizt hier alles aus, die mittleren Quartette müssen also etwas Neues bringen, sind dann doppelt so lang, sprengen die bislang bekannten Weisen. Dann ikomprimiert er die Form, Opus 95 folgt, das allerkürzeste Quartett. Das Spätwerk geht wieder ganz eigen mit Materiel um. Allein für Opus 131, das für mich der Höhepunkt in seinem Schaffen ist, schreibt Beethoven 500 Seiten Skizzen. Ich erkenne trotzdem eine große Kontinuität und widerspreche damit manchem Wissenschaftler.
Doch die Einzelstimmen werden in den letzten Streichquartetten immer individueller, oder?
Wille: Ja und nein. In Opus 135 etwa wäre meine zweite Geigen-Stimme völlig sinnlos, wenn sie nur für sich stünde. Weder ist sie melodisch nachvollziehbar noch hat sie begleitenden Charakter. Doch sie ist nach links und rechts verzweigt, vernetzt: Wir spielen ein Instrument mit 16 Saiten.
Welche Rolle spielt die Taubheit Beethovens?
Wille: Sie ist tragisch: Jemand, der gefragt und anerkannt in der Gesellschaft war, kann am öffentlichen Leben nicht mehr teilnehmen. Es wäre ihm auch peinlich – wenn man taub wird, gibt man manchmal seltsame Geräusche von sich. Doch in dieser Einsamkeit entsteht dann Großes. Dass er diese Kraft besaß, ist kaum zu fassen, und man spürt sie in den späten Quartetten. Beethoven konnte wie niemand zuvor in die Psyche des Menschen schauen und das in Töne fassen.