Literatur

Karl Ove Knausgard erzählt von den letzten Tagen der Menschheit

Der norwegische Autor Karl Ove Knausgard strickt an seinem Roman-Zyklus über die Abschaffung des Todes

Von 
Frank Dietschreit
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Karl Ove Knausgard zählt zu den wichtigsten norwegischen Autoren der Gegenwart. © Rolf Vennenbernd/dpa

Frühjahr 1986. In Tschernobyl ereignet sich der Super-Gau, eine atomare Wolke zieht über Europa und verängstigt die Menschen. Ist das der Anfang vom Ende aller Gewissheiten? Das fragt sich auch der junge Norweger Syvert Loyning. Aber nur kurz. Viel zu sehr ist er mit eigenen Problemen beschäftigt. Gerade ist er vom Militärdienst entlassen worden. Zu Hause warten seine krebskranke Mutter und sein kleiner Bruder, der autistische Züge hat.

Unfall oder Selbstmord?

Sein Vater ist vor Jahren mit dem Auto in den Tod gerast. War es ein Unfall oder Selbstmord? Komisch nur, dass der tote Vater in Syverts Träumen auftaucht und ihm eine Botschaft übermitteln will. Tatsächlich findet Syvert in den Sachen seines Vaters ein vergilbte Briefe in kyrillischer Schrift: Aus ihnen geht hervor, dass sein Vater in Russland eine Geliebte hatte, die von ihm schwanger war; dass er sich scheiden lassen, nach Russland ziehen und ein neues Leben beginnen wollte. Syvert, der nicht zum Grübeln neigt und lieber Fußball spielt als Bücher liest, spürt, dass sein bisheriges Leben eine Lüge war. Außer, dass er endlich die schöne Lisa ins Bett bekommen will, hat er keinen Plan für die Zukunft.

Karl Ove Knausgard

  • Karl Ove Knausgard, geboren 1968 in Oslo, gilt als einer der wichtigsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Mit der sechs-bändigen Roman-SerieMin Kamp“ (Mein Kampf) gelang ihm der literarische Durchbruch. Das auto-fiktionale Projekt wurde zur Sensation, in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt.
  • 2015 erhielt er den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 in Kopenhagen den Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis.
  • Nach einer vier-bändigen Buch-Reihe über die Jahreszeiten war „Der Morgenstern“ der erste Teil eines auf fünf Bände angelegten Roman-Zyklus. Der Autor lebt heute in London.
  • Sein neues Buch: „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand. 1058 S., 30 Euro. 

Weil er dringend Geld braucht für seine nächtlichen Zechtouren, heuert er bei einem Beerdigungsinstitut an und lernt den Tod von einer ganz anderen Seite kennen. An diesem Punkt angekommen, sind bereits 550 Buchseiten vergangen, 500 werden noch folgen: Ach du Schreck!

Erzählfluss abrupt unterbrochen

Unendlich langsam und ohne ein Ereignis aus der Zeit der möglichen atomaren Katastrophe besonders hervorzuheben, berichtet Syvert in der alltäglichen Sprache eines 19-jährigen, was er denkt und ihm widerfährt. Doch statt die Geschichte zu Ende zu bringen, unterbricht Autor Karl Ove Knausgard abrupt den Erzähl-Fluss. Plötzlich sind wir in Russland, lernen die Wissenschaftlerin und Ärztin Aletvina kennen, die mit ihrem Sohn von Moskau nach Samara reist, um den 80. Geburtstag ihres Vaters zu feiern. Aletvina breitet vor dem zunehmend genervten Leser ihr Leben aus, ihre problematischen Familienverhältnisse, ihre Forschungsergebnisse über Gen-Manipulation und DNA-Entschlüsselung. Reicht dann den Erzähl-Stab weiter an ihre Freundin Vasilisa: eine Dichterin, die sich mit russischer Kultur, christlichen Mythen und religiösen Lehren von Tolstoi und Dostojewski und dem Glauben an das ewige Leben beschäftigt.

Ausführlich zitiert sie aus den verschwurbelten Schriften des futuristischen Esoterikers Nikolai Fedorow über die Abschaffung des Todes und die Schaffung des ewigen Lebens. Ihre Lesefrüchte, die Knausgard genüsslich paraphrasiert, sind die Basis für ihr großes Werk, an dem sie seit langem lyrisch herumfummelt und das den Titel tragen soll: „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“. Wie bitte, ist das nicht der Titel des Romans von Knausgard, den wir gerade in den Händen halten?

Nach 1000 Seiten etwas Aufregendes

Bevor der Leser vollends am Verstand des neuerdings zum Irrationalen neigenden Autors zweifelt, geschieht doch noch - nach 1000 Seiten - etwas Aufregendes: Syvert, inzwischen selbst Beerdigungsunternehmer und mit Lisa verheiratet, taucht aus der Zeitschleife wieder auf und trifft sich im heutigen Moskau mit Aletvina. Sie sind, wir haben es längst geahnt, Halb-Geschwister, gezeugt vom selben Vater, für den der Tod der Ausweg aus dem existenziellen Liebes-Dilemma zwischen Norwegen und Russland war. Aber vielleicht ist er ja gar nicht tot. Oder er wird gerade zum ewigen Leben wiedererweckt. Denn während Syvert und Aletvina sich beschnuppern und in die Abgründe ihrer Familien-Geheimnisse hinabsteigen, erscheint am Himmel - als Menetekel und Vorbote einer neuen Welt -„Der Morgenstern“.

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Den kennen wir aus dem gleichnamigen ersten Teil des auf fünf Bände angelegten Roman-Zyklus. Knausgard hat hin und her, vor und zurück gespult, um wieder dort anzukommen, wo er schon einmal war: Bei der finalen Katastrophe und den letzten Tagen der Menschheit. Noch wissen Syvert und Aletvina nicht, dass die Toten bald aus ihren Gräbern wieder auferstehen, dass der Beerdigungsunternehmer keine Kunden mehr haben wird und die Ärztin niemanden mehr vor dem Tod retten muss.

Zwischen Alltagsgebrabbel und Spökenkram

Nach seiner ausufernden Seelenbeichte der „Min kamp“-Serie (Mein Kampf) jetzt ein zwischen Alltagsgebrabbel und Spökenkram schwankender Literatur-Hybrid über die Abschaffung der Welt und die Errichtung eines neuen Gottes-Reiches: Ein gigantischer Schmarren, dem auch ein Motto aus der Offenbarung des Johannes („Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“) nicht auf die Beine hilft. Nach der schweißtreibenden Bezwingung des literarischen Berges ist der Leser matt und müde, leer und lustlos. Ein Merksatz von Literatur- und Musik-Papst Joachim Kaiser lautet: „Wenn ein Satz weder Anmut hat noch eine neue Information enthält, dann darf man ihn nicht schreiben.“ Hätte Knausgard das berücksichtigt, wäre sein dickes Buch schmal ausgefallen.

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