Das Gangsterepos hat sich längst als eigene, populäre Filmgattung etabliert, in ihrer modernen Form maßgeblich beeinflusst von Francis Ford Coppolas „Pate“-Trilogie. Martin Scorsese, siehe „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“ oder „Departed – Unter Feinden“, ist ein ausgewiesener Spezialist auf dem Gebiet, weitere Highlights haben Sergio Leone mit „Es war einmal in Amerika“ oder Brian De Palma mit „Scarface“ verantwortet.
Pierfrancesco Favino – Wiedergänger von Lino Ventura
- In Italien ist Pierfrancesco Favino ein Star, was schon die Tatsache belegt, dass er für eine Pasta-Marke Werbung machen durfte. Zuerst jedoch ist der Römer, Jahrgang 1969, Charakterdarsteller, dank seiner physischen Präsenz auch im Action-Kino einsetzbar, vergleichbar mit Lino Ventura.
- Bekanntheit erlangte er 2001 mit Giuseppe Muccinos romantischem Drama „Ein letzter Kuss“, nachhaltigen Eindruck hinterließ er 2002 als Sergente Rizzo in „El Alamein 1942 – Die Hölle des Wüstenkriegs“, den endgültigen Durchbruch schaffte er 2005 als „Der Libanese“ im Gangsterepos „Romanzo criminale“.
- Inzwischen ist er in Hollywood angekommen, war etwa im Mystery-Thriller „Illuminati“ oder als Rennfahrer Clay Regazzoni in „Rush – Alles auf Sieg“ zu sehen. Zu den TV-Credits des Juryvorsitzende der Reihe Orizzonti der 69. Filmfestspiele von Venedig zählen die Miniserie „Die Kinderklinik“, „Falcone – Im Fadenkreuz der Mafia“ und „Jesus-Legenden: Judas“.
- Pierfrancesco Favino, der mit seiner langjährigen Freundin Anna Ferzetti („Der Kommissar und die Alpen“) zwei Töchter hat, wurde bereits dreimal mit dem David di Donatello, dem italienischen Oscar-Äquivalent ausgezeichnet.
Reale Figuren stehen gerne im Fokus, „Lucky Luciano“ bei Francesco Rosi oder Benjamin „Bugsy“ Siegel bei Barry Levinson. Nun hat Marco Bellocchio („Teufel im Leib“), einer der vielseitigsten italienischen Filmemacher, sich in „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“) einem weniger bekanntem Kriminellen gewidmet: Tommaso Buscetta, genannt „Boss der zwei Welten“, eindringlich gespielt von Pierfrancesco Favino, auf den man in Hollywood, siehe „World War Z“ oder „Rush“, längst aufmerksam geworden ist.
Mit einem großen Fest – analog zur Hochzeitsfeier bei der „Der Pate“ – eröffnet er sein wenig blutiges Drama. Auf einem Schloss über dem Meer treffen sich die Gangster-Granden. Schwer bewaffnet Leibwächter blicken finster drein, die Chefs der verschiedenen Clans geben sich jovial, ihre Frauen sind in schicken Abendroben gewandet.
Machtkämpfe der Familien
Man tanzt, stellt sich zum Gruppenfoto auf – Einigkeit will man demonstrieren. Doch der Friede währt nur kurz. In den frühen 1980er-Jahren erreichen die Machtkämpfe zwischen den Familien des organisierten Verbrechens ihren Höhepunkt.
Salvatore „Totò“ Riina (Nicola Cali), Oberhaupt der Corleonesi, mutmaßlicher „Capo di tutti i capi“, will alle Macht an sich reißen. Man begleicht offene Rechnungen, übernimmt „Territorien“. Morde auf offener Straße sind an der Tagesordnung, selbst vor Kindern, Frauen und Klerikern wird nicht Halt gemacht. Buscetta, ein intelligenter, besonnener und charmanter Mann, Organisator im weltweiten Drogenhandel, hat sich inzwischen mit seiner dritten Frau (Maria Fernanda Cândido) und den gemeinsamen Kindern nach Rio de Janeiro abgesetzt. Er will mit seiner Vergangenheit brechen. Als er – dank untergeschobenen Rauschgifts – verhaftet und nach Italien ausgeliefert wird, trifft er eine schwerwiegende Entscheidung. Vor Richter Giovanni Falcone (Fauso Russo Alesi) bricht er sein Schweigen, geht mit ihm einen Deal ein. Er kooperiert, sagt gegen Ex-Komplizen aus und erhält im Gegenzug Garantien, die sein Überleben sichern...
Der spektakuläre, vom Regisseur penibel nachgestellte „Maxi-Prozess“ (1986 - 1992) in Palermo bildet den Kern der Handlung. Es wird im überlieferten Wortlaut gestritten und geschrien, dazwischen eisern geschwiegen und dann wieder darüber diskutiert, ob auf Italienisch oder im sizilianischen Dialekt verhandelt werden soll. Zu über 350 Schuldsprüchen kommt es final, aufgezählt im Abspann, auch Riina, der für 150 Morde verantwortlich sein soll – rund 40 davon persönlich durchgeführt – wird verurteilt. Es geht um Ehre und Verrat, um Tradition, Umkehr, den Wandel der Gesellschaft und den damit einhergehenden Veränderungen innerhalb von Mafia, Cosa Nostra sowie der kalabrischen ‘Ndrangheta.
Wie Raubtiere sitzen die Angeklagten pausenlos rauchend in Käfigen, die Enge steht im harten Kontrast zu den geräumigen, luxuriös ausgestatteten Villen, in denen die Drahtzieher residieren. Furios montiert ist eine „Säuberungsequenz“, in der Dutzende Bandenmitglieder getötet werden, schwarzhumorig jene Szene, in der zwei „Mönche“ Maschinenpistolen unter ihren Kutten hervorholen und versuchen, einen Priester während eines Gottesdienstes zu erschießen.
Fragwürdiges Selbstbild
Perfekt auf die Handlung abgestimmt ist der vielfach prämierte Score von Oscar-Preisträger Nicola Piovani („Das Leben ist schön“), der Erinnerungen an die eingängigen Soundtracks der klassischen italienischen Mafiafilme von Damiano Damiani („Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert“) oder Pasquale Squiteri („Camorra“) weckt.
Genrebedingt problematisch ist die positive Zeichnung des „Helden“ Buscetta. In seinen Geständnissen betont er, selbst mehrfacher Killer, immer wieder, dass es zwischen „seiner“ Mafia und den Corleonesi eine tiefe Kluft gibt. Er will der „wahren Cosa Nostra“ auf seine Art Gerechtigkeit angedeihen lassen, lehnt die Bezeichnung „Informant“ kategorisch ab. Er, der wie er sagt, jedes italienische Gefängnis von innen kennt, sieht sich als Ehrenmann und Friedensstifter. Was Falcone, der ihm auf Augenhöhe begegnet, zu Recht vehement in Abrede stellt. Ein Korrektiv, das nicht wirklich zum Tragen kommt.