Musiktheater - Stephan Kimmig verrätselt in Stuttgart Henzes „Prinz von Homburg“, Cornelius Meister zaubert den Klang dazu

Wo ist die Inklusion der Kunst?

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Eines der faszinierendsten Bilder: Vera-Lotte Böcker als Natalie. © Wolf Silveri

Da redet alle Welt von Inklusion, da wollen alle alle einbeziehen und einschließen. Da versuchen Politiker, Journalisten, ja, selbst Wissenschaftler ihre Botschaften und komplizierten Formeln und Erkenntnisse herunter zu brechen ins Allgemein-Verständliche. Und da wollen alle Teilhabe, Demokratie zum Verstehen, den Bürger als Partner auf Augenhöhe und überhaupt eine Gesellschaft der Durchlässigkeit.

Henzes „Prinz von Homburg“

  • Das Werk: Für Hans Werner Henzes Oper in drei Akten „Der Prinz von Homburg“ hat Ingeborg Bachmann den Schauspieltext von Heinrich von Kleist für Musik eingerichtet. Die Uraufführung fand 1960 in Hamburg statt, die der in Stuttgart gespielten revidierten Fassung 1991 in München.
  • Der Ansatz: Henze und Bachmann entwerfen die Idealversion einer offenen und sich reflektierenden Gesellschaft. Es geht um den Traum eines Gegenentwurfs zur von Regeln und Mustern verknöcherten Realität – erzählt vor der Folie einer Schlacht zwischen Brandenburg und Schweden bei Fehrbellin. Homburg befiehlt einen Angriff gegen alle Abmachungen und wird zum Tode verurteilt …
  • Die Besetzung: Heidelbergs ehemaliger GMD Cornelius Meister dirigiert, Mannheims ehemalige Sopranistin Vera-Lotte Böcker singt Natalie und Robin Adams den Prinzen. Regie führt Stephan Kimmig.
  • Die Termine: 20., 22., 29. März, 6. April, 4. Mai (Info: 0711/20 20 90).

Und was macht das Theater bisweilen? Es ruft, wie jetzt in Stuttgarts Henze-Abend, nach Freiheit, nach einer Welt des Wir, einer Welt voller Mitgefühl, Neugierde, Brüderlichkeit, Sensibilität, Fantasie. Dies zum einen; all das steht an diesem Abend in der finalen Szene auf unzähligen Fanschals an den Hälsen der 14 Solisten. Doch dann betreibt das Theater zum anderen doch immer wieder das Gegenteil: Exklusion. Ausschluss.

Postdramatisch wegerzählt

„Wer wollen wir gewesen sein?“ fragt die Staatsoper am Oberen Schlossgarten in ihrer kommenden Saison im Futur zwei. Vielleicht wird man ihr in 50 Jahren gesagt haben: Ihr seid diejenigen gewesen, die bis zuletzt ein Theater gemacht haben, bei dem – überspitzt ausgedrückt – die zu lesenden Programmhefte über die Bühnenwerke dicker waren als die Werke selbst, die man ohne akribisches Studium nicht kapieren konnte. Ihr habt aus Mangel an brauchbaren zeitgenössischen Werken die alten so lange zerstückelt, bis sie nur noch Dramaturgen und Spezialisten verstehen konnten. Ja, das ist böse.

Natürlich gehört es zum Wesen der Kunst, die Grauzonen zu beleuchten. Natürlich ist ein Werk wie Hans Werner Henzes „Der Prinz von Homburg“ ein Werk über den Traum, die Kunst und Kreativität, die sich aus allen gängigen Rastern lösen, sie aufbrechen und über den schnöden Verstand triumphieren. Und natürlich ist es der Kunst (ja, auch der Bühnenkunst) vorbehalten, über Realität und Ratio hinaus zu gehen. Aber muss sie auch – fast schon zwanghaft – alles so lange zertrümmern, postdramatisch herunterspielen und wegerzählen, dass selbst gut informierte und geneigte Profis mit (zu) vielen Fragezeichen aus Vorstellungen kommen?

Stephan Kimmig hat in Stuttgart den „Prinzen“ gezeigt. Die Vorlage von Kleist wird schon selten gespielt. Der Henze – fast nie. Die Fehrbelliner Schlacht der Brandenburger gegen die Schweden ist nicht gerade präsent. Die vorsichtige Übertragung Henzes und Bachmanns auf die Zeit nach Weltkrieg und Nationalsozialismus in die biederen 1950er Jahre hinein bleibt eine Randnotiz neuerer Musikgeschichte. Das ist der Ausgangspunkt für einen Regisseur.

Tanzübungen an der Stange

Kimmig verlangt vom Betrachter im übrigens nicht ausverkauften Saal einige Transferleistungen. Im zwischen Schlachthaus und Ballettsaal changierenden ganz weißen Einheitsbühnenbild seiner Ehefrau Katja Haß führen mal Adel und Armee an der Barre (Stange) ihre Tanzübungen aus: Beine werden angewinkelt, Arme gebeugt, Ballettschläppchen an- und ausgezogen. Selbst der Kurfürst (Stefan Margita) folgt den starren Figuren des Tanzens, das schnell ins Marionettenartige abdriftet. Ein skurriles Ballett Blanc. Dann wieder sind die Agierenden in eigenartige Sci-Fi-Uniformen gewandet. Es sind wohl Anspielungen auf verkrustete, eingeübte Verhaltensweisen, die bis hin ins Faschistoide reichen. Inmitten dieser Seltsamkeiten ist dann da der Freidenker Homburg (hinreißend gesungen von Robin Adams), der in Unterhosen durch die Gegend schlappt und eine vertrackte Liebesbeziehung zu Natalie (großartig beseelt: Vera-Lotte Böcker) aufbaut, die als Mixtur aus 68er-Intellektueller, Terroristin und Mia Wallace aus „Pulp Fiction“ daherkommt. Ein bizarres Setting.

Luft zum Atmen

Wäre da nicht Henzes doch immer noch ziemlich aktuelle Musik, die Heidelbergs ehemaliger Generalmusikdirektor Cornelius Meister mit dem Staatsorchester plastisch, blitzend und teils wie spitze Pfeile scharf abschießt – es wäre ein träger Abend ohne optische Reize und dramatische Spannungen. Meister peitscht den Henze teils kraftvoll durch, schlägt, Zweier-, Dreier-, Vierer- und Sechsertakte, gibt Einsätze und hat doch die Sensibilität, den typisch Henze’schen Zartklängen die Luft zum Atmen zu geben. Das Gesangsensemble, allen voran die erwähnten Böcker und Adams, aber auch Moritz Kallenberg (Hohenzollern) und Stefan Margita (Kurfürst) sind bestens besetzt und vorbereitet.

Es gibt Jubel am Ende. Die Beteiligten können stolz sein. Der „Prinz“ ist ein großes Werk. Doch ein bitterer Beigeschmack bleibt. Für viele steht über dem Eingang der Staatsoper das imaginäre Schild: Wir müssen draußen bleiben. Das ist schade.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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