Journal - Ideologien oder ein falsches Geschichtsverständnis haben den Menschen immer wieder zu Gräueltaten verführt

Über Leichen zum Paradies

Von 
Alfred Huber
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Nichts rechtfertigt die Gewalt im Namen der Geschichte oder einer Ideologie, wie sie derzeit in der Ukraine herrscht. Unser Bild zeigt Schuhe, Stiefel und Kerzen bei einer Demonstration auf einem Platz im finnischen Helsinki zum Gedenken an die in Mariupol, während Russlands Invasion getöteten Kinder,. © Jussi Nukari/Lehtikuva/dpa

Der Mensch braucht ein Ziel. So viel steht fest. Bewohner ärmerer Länder hoffen auf die Erfüllung elementarer Bedürfnisse. Besserverdienende in reichen Industrienationen können sich den Luxus leisten, über ihre Zukunft und den Sinn des Lebens zu spekulieren. Aber woran orientieren sich die Menschen, welche Rolle wollen sie künftig spielen? Schließlich sind sie in gewisser Weise frei, darüber zu entscheiden. Eine selbst heute noch verstörende Einsicht.

Früher überließ man das eigene Schicksal gern der göttlichen Vorhersehung. Sie allein schien geeignet, den dunklen Pfad des Kommenden auszuleuchten. Inklusive seiner Schatten. Sind doch die Epochen des Glücks in der Weltgeschichte nur leere Blätter, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel befindet. Seine Vorstellung von der Zwangsläufigkeit der Geschichte treibt die Menschen durch ein Meer von Blut, um am Ende in der Versöhnung aller Gegensätze einen absolut konfliktlosen Zustand der Weltgesellschaft zu erreichen.

Eine Illusion. Denn die Psyche des Erdenbewohners ist komplizierter als Hegel sich das hat vorstellen können. Soziale Einflüsse und die nicht zu unterschätzende Triebhaftigkeit des Menschen haben jedenfalls die Hoffnungen auf einen primär vernunftgesteuerten Verlauf der Geschichte immer wieder scheitern lassen. Zwar lernten die Menschen aus der Französischen Revolution, dass Geschichte machbar ist. Wie sie aber aussehen soll, welche Erwartungen man damit verknüpft, ist nach wie vor heftig umstritten.

Hier kommt die Dynamik unseres Verlangens nach Harmonie und Einheit rasch an ihre Grenzen, ausgebremst von den unterschiedlichen Haltungen zur Welt. Denn Konfliktmaterial, das feindliche Gefühle und Aggressionen auszulösen vermag, gibt es genügend: die andere Hautfarbe, das unvertraute Denken, der fremde Glaube.

Komplizierter wird es, wenn hinter dem Bösen in der Welt ein Sinn vermutet wird. Wie bei Johann Gottfried Herder, der in seiner Bückeburger Schrift von 1774 einen Vergleich zwischen Shakespeare und Gott wagt. Sowohl in der Hand des Dichters als auch in der Hand Gottes sind wir Menschen für Herder unwissende, blinde Werkzeuge, die zu etwas beitragen, was sie nicht verstehen. Etwa zur Erfüllung eines göttlichen Weltplanes, der, falls erforderlich, über Millionen von Leichen gehen kann. Mit dieser Haltung lassen sich nicht nur die Gräueltaten der Kreuzritter, alle Kriege, sondern auch die Morde von Auschwitz oder der Atombombenabwurf auf Hiroshima rechtfertigen. Aktuell handelt man zwar verbrecherisch, aber aufs Ganze gesehen für einen guten Zweck. Der Weg zum irdischen oder himmlischen Paradies war zu allen Zeiten mit Stolpersteinen gepflastert.

Stalinistischer Terror

Noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts bekannten sich zahlreiche Vertreter der westeuropäischen linken Intelligenz, etwa der Kreis um Jean-Paul Sartre, zu der Auffassung, dass man, wenn auch zähneknirschend, den stalinistischen Terror hinnehmen müsse, um einer marxistisch geprägten sozialistischen Gesellschaft zum Sieg zu verhelfen. Die sowjetischen Straflager betrachteten sie als eine bedauerliche, aber unumgängliche Zwischenstation.

Zu überbieten ist dieser Zynismus wohl kaum. Er bestätigt all jene, die behaupten, dass Hegels Geschichtsverständnis, auf das sich die orthodoxe Pariser Linke berief, geradewegs in den Gulag führe. Jedenfalls: Was für ein Irrtum zu glauben, dass man die Menschen mit humanen Ideen gewaltsam beglücken müsse! Weder die Bergpredigt noch das Kommunistische Manifest haben das verdient.

Als Sartre 1954 von seiner ersten offiziellen Reise durch die Sowjetunion der Schauprozesse zurückkehrte, ließ er die französische Presse wissen, dass die Bürger dort nach seiner Auffassung völlige Meinungsfreiheit besitzen. Erst 1956 nach dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn brach Sartre mit dem Stalinismus und der französischen kommunistischen Partei, blieb aber von den positiven Möglichkeiten des Marxismus überzeugt.

Neues Nachdenken

Von Albert Camus, der jede Form des Totalitarismus strikt verneinte, distanzierte sich Sartre deutlich. Mehr noch. Er hat dessen Essay „Der Mensch in der Revolte“, eine Kritik an der überschätzten abendländischen Vernunft und zugleich eine Klage über die Massenmorde im 20. Jahrhundert, scharf verurteilt und damit auch eine der hellsichtigsten Totalitarismus-Analysen des vorigen Jahrhunderts.

Aus der Sicht Camus’ rechtfertigt nichts die Gewalt im Namen der Geschichte. Höchstens in Verbindung mit dem persönlichen Gewissen akzeptiert er sie. Camus war sich dessen bewusst, dass fast alle Versuche, den Menschen über Revolutionen gesellschaftliche Systeme aufzuzwingen, nur Erziehungsdiktaturen hinter Mauern und Stacheldraht hervorgebracht haben. Stattdessen forderte Camus ein neues Nachdenken über den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Natur des Menschen und den gesellschaftlichen Theorien, die ihn nicht selten überfordern.

Bereits ein Jahrhundert zuvor hatte Arthur Schopenhauer mit Blick auf Hegel alle nebulösen Endverheißungen, in deren Namen Entsetzliches verübt werden darf, radikal abgelehnt. Das Böse ist für ihn nichts, was mit vernünftigen Argumenten überwunden werden könnte. Vor allem ist es durch keinen verborgenen Sinn legitimiert, sondern sinnlos aus dem Abgrund des Menschen hervorgegangen, um anderen Menschen zu schaden.

Freier Autor Geboren 1941, Studium Musikheorie/Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte in Mannheim und Heidelberg Volontariat Mannheimer Morgen, Redakteur, anschließend freier Journalist und Dozent in verschiedenen Bereichen der Erwachsenenbildung. Ab 1993 stellvertretender Ressortleiter Kultur, ab 2004 bis zur Pensionierung Kultur-Ressortleiter.