Ein großes Sehnen schwebt durch den Raum. In Gestalt heilvollen G-Durs strebt es und erzählt uns nostalgisch von einer schönen Vergangenheit, tritt eine Reise an zurück in die Zeit, als die Tongeschlechter noch unverdorben waren und die Welt noch heil. Der Augenblick ist kurz, denn schon zieht Unheil herauf, aber er wiegt uns in Watte.
Sidney Corbett, der Mann, der diese Musik erfunden hat, mischt nun schnell weitere Partikel in die helle Dur-Welt, zuerst unmerklich, doch im Verlauf von Sekunden immer mehr. Wie eine dunkle Macht kontaminiert fremdes, bedrohliches Material die immer wieder wie durch eine matte Scheibe aufleuchtende Vergangenheit. Es pfeift. Es fiept. Es rauscht und raschelt. Unter der blanken Fassade brodelt es gewaltig, bis geschieht, was geschehen muss: Eine schroffe Attacke von Tuba, Posaunen, Trompeten und Hörnern stellt klar, dass hier auch physische Kräfte wirken. Rohe Gewalt.
Eine Minute ist das Stück zu diesem Zeitpunkt erst alt, und es zeigt im (2 G-plus-bedingt allenfalls halb besetzten) Mannheimer Rosengarten schon die ganze Facette im Werk des amerikanischen Komponisten, der in Schwetzingen lebt. Das Unfassbare, Unerklärliche, das metaphysisch Spirituelle ist Antriebsfeder seines Schaffens, das geprägt ist von einer ungeheuren Konzentration auf den Moment, in dem sich das Kleinste mit dem Größten mitunter zu Gespenstischem, Monströsem zu verschwören scheint. Corbetts Uraufführung „Violence and Longing“ (Gewalt und Sehnsucht) gehört damit schon zum Avantgardistischsten in der Reihe der Uraufführungen bei der Musikalischen Akademie. Es gab schon wesentlich Gefälligeres.
Alexander Soddy dirigiert das souverän. Corbetts horizontalen Strukturen und Schichtungen schleift er mit dem Nationaltheaterorchester zu einem kantigen Monolithen, die horizontalen Entwicklungen, das Atmen, Keuchen, Schaukeln der Elemente, das Stoßen, Schaben und katastrophische In-die-Kruste-Graben entwickeln etwas Zwingendes, das schaudern lässt. Corbett, der an der Musikhochschule Mannheim Komposition lehrt, erzählt einen echten Thriller, der auf faszinierende Weise die Klangkosmen aller Instrumentengruppen auslotet, ohne sinnloser Effekthascherei zu verfallen.
Der brutale Höhe- oder Wendepunkt sind dann zweimal sieben brachiale, dissonante und stumpfe Tutti-Schläge nach neuneinhalb der insgesamt 16 Minuten. Sie wirken wie der verzweifelte Versuch roher Kräfte, den Triumph über das Feine, Zerbrechliche, Menschliche zu erlangen.
Man wird Corbett vielleicht nicht gerecht, so dualistisch vereinfachend zu interpretieren, doch wird dieses Denken doch im Titel provoziert: Gewalt und Sehnsucht. Das Ende jedenfalls, nach leisem Streicherglissando und vereinzelten Klangereignissen, setzt Corbett mit einem leisen trockenen Paukenschlag, der da steht wie ein Fragezeichen. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis von Corbetts schöpferischer Erfindungsgabe, das durch Geld der Ernst von Siemens und der Esser Stiftung sowie des Kulturamtes Mannheim möglich wurde.
Anspruchsvoll im Sinne einer Publikumszumutung geht es weiter. Frank-Peter Zimmermann spielt zwei eher selten gespielte Werke von Bartók (Rhapsodie Nr. 1) und Martinu (Suite Concertante) für Violine und Orchester. Besonders bei Martinus ironisch zwischen großer klassischer Konzertmusik und böhmisch-mährischer Folklore-Intimität pendelnder Moderne-Alternative fasziniert Zimmermann mit fast unmenschlicher Perfektion. Wie selbstverständlich er die virtuosesten Passagen von seiner Violine lässt und dabei doch großen Farbenreichtum und, ja, Witz in den Mozartsaal sprüht, ist sehr beeindruckend. Leider wirken Bartók und Martinu trotz ihrer Meisterhaftigkeit immer noch eher ungewohnt im Konzertsaal. Aber Zimmermann reißt mit, auch wenn sein Spiel nicht darauf angelegt ist, sondern sich ganz in den Dienst der Musik stellt. In der Zugabe, dem Adagio aus Bachs Solosonate C-Dur (BWV 1005), kann er das hohe Niveau nicht ganz halten. Zu distanziert und unbeseelt klingt dieser nachdenkliche Bach, der irgendwie im großen Rosengarten verpufft.
Mit Beethovens 4. Sinfonie B-Dur dachte das Nationaltheaterorchester sicherlich, eine sichere Nummer aufs Programm zu setzen. So, wie die Vierte dann von Soddy und dem Orchester gespielt wird, ist sie aber allenfalls Mittelmaß und nicht ganz konkurrenzfähig. Beispiele: Dem ersten Satz fehlt zum einen die übergeordnete Idee, die alles zusammenhält, zum anderen das revolutionäre Moment des neuen Wegs. Wie sehr die Präzision und Akzent-Tarierung bei Beethoven eine Rolle spielen, hört man im dritten Satz, dessen Anfang mit einer in den Dreivierteltakt geschraubten Hemiole (Tah-di, tah-di, tah-di, tha Di-da-da-dam) kaum verständlich wird. Und dass der letzte Satz gehetzt (und rhythmisch etwas gehuscht) klingt, passt da ins Bild. Allegro ma non troppo steht dort - nicht zu sehr. Schade, dass das Ende nicht so stark ist wie Corbetts Anfang, Corbetts Sehnen.