Konzertkritik

Nick Cave zeigt rund 6000 Fans in Rastatt, wie aus Trauer Liebe wird

Bei der fast ausverkauften Premiere der Schlossfestspiele sprengt der australische Weltstar mit den Bad Seeds die Grenzen der Live-Musik

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Wie auf unserem Bild vom Montreux Jazz Festivals Mitte Juli hatte Nick Caves Interaktion mit dem Publikum auch im Residenzschloss messianische Züge. © Laurent Gillieron/dpa

Rastatt. Auch wer sehr viele Konzerte erlebt hat, wird Auftritte von Nick Cave ins alleroberste Regal sortieren. Denn viel besser geht es live einfach nicht. Zumal der 64-Jährige mit seiner seit Jahrzehnten eingespielten Band Bad Seeds das Genre Livemusik regelrecht sprengt. Das auch als Autor erfolgreiche Multitalent deklamiert seine Texte, die qualitativ im Feld direkt nach den Rocklyrik-Monolithen Bob Dylan und Leonard Cohen rangieren, oft wie ein Shakespeare-Schauspieler, mal lakonisch, dann mit der fiebrigen Intensität eines Predigers - obwohl der gebürtige Australier nicht offiziell gläubig ist.

Messianische Szenen

Jedenfalls recken sich ihm auch im fast ausverkauften Ehrenhof des Rastatter Residenzschlosses die Hände des Publikums sehnsüchtig, ja flehend entgegen - auf den letzten Tourneen bekamen die Auftritte so fast messianische Züge. Dabei ist dieser vermeintliche Erlöser aktuell der wohl größte Schmerzensmann der Popmusik. Der früher maximal distanzierte, mitunter sogar feindselige Wahl-Brightoner hat durch schwere Schicksalsschläge eine Metamorphose durchlebt. Den Schmerz nach dem Unfalltod seines 15-jährigen Sohnes Arthur vor sieben Jahren hat er auch öffentlich zu verarbeiten versucht - in einem bewegenden Film, auf Alben und zuletzt bei einer beeindruckenden Tournee mit Gesprächskonzerten, bei denen Cave Fan-Fragen (etwa im Januar 2020 in Baden-Baden) unglaublich offen beantwortete - wie ein Patient dem Therapeuten seines Vertrauens. Zu allem Überfluss starb sein nicht bei ihm aufgewachsener Sohn Jethro (31) im Mai 2022. Das Resultat dieser eigentlich kaum verkraftbaren persönlichen Tragödien wirkt fast wundersam: Cave wird nicht müde, mit gewaltiger Überzeugungskraft Liebe zu predigen.

Dazu passt die Tendenz, dass seine Musik über die Jahrzehnte die in Punk und Wave wurzelnde Aggressivität weniger in den Mittelpunkt stellt, ruhiger, noch melancholischer und komplexer geworden ist. Der von biblischen Texten besessene Australier erklärt diese Wandlung damit, dass sein Interesse sich vom Alten auf das Neue Testament verlagert habe. Womit wir wieder bei der Liebe wären. Die ersten Titel des Open-Airs in der höchstsommerlichen Postkartenkulisse sind programmatisch und sprechen schon über die Titel für sich, in puncto Caves Biografie, aber auch mit Blick auf die Zeitenwendezeiten: Das krachende „Get Ready For Love“eröffnet der alterslos agile Cave mit einem harten Kick in die Luft. Was signalisiert: Hier kommt eine normalere Show, man darf auch Spaß haben. Cave mag berührbar geworden sein, Distanzlosigkeit goutiert er nicht: Ein „Ausziehen“-Rufer erntet ein „No!“ - und einen Blick, als würde er wegen Majestätsbeleidigung in den Folterkeller des Schlosses abgeführt. „Das Jackett bleibt an!“ Was Cave natürlich zweieinhalb Stunden land durchzieht - so geht Rockstar. Es folgen „There She Goes, My Beautiful World“, der Klassiker „From Her To Eternity“ und „O Children“. Cave und sein freakiger Kreativzwilling, der Multiinstrumentalist Warren Ellis, strotzen dabei vor Energie.

Übernatürliche Aura

Dabei hat der Hauptdarsteller ja ohnehin eine fast übernatürliche Aura. Fast fürchtet man, er würde im stechenden Sonnenschein zu Staub zerfallen. Schließlich erinnert der notorische Anzugträger von jeher an den jüngst zu Filmehren gekommen Spiderman-Gegenspieler Morbius, einen brillanten Hämatologen, der sich bei seiner Forschung in einen Vampir verwandelt und im Kampf mit seinen inneren Dämonen zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen wird. Eine Story, die auch Nick Caves Inhalte gut beschreibt, vielleicht sogar sein Innenleben.

Das kehrt er in der Folge auf der Bühne immer mehr nach außen. Die Piano-Ballade „I Need You“ ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt. Sie macht mit unglaublicher Intensität noch einmal klar, dass die Antwort auf Schmerz nur Liebe sein kann: „Nichts ist wirklich wichtig - Ich brauche Dich“ singt Cave mit enormer Eindringlichkeit. Und streut wie in mehrere andere Songs stakkatohaft, „Just breathe!“ ein - was in vielerlei Hinsicht beklemmend wirkt. Mit Blick auf den Badeunfall seines Sohnes, auch der öffentliche Tod des US-Amerikaners George Floyd durch Polizeigewalt klingt durch. Das ist so berührend, dass sich viele Fans die Tränen aus den Augen wischen.

Aber Musik ist hier keine Nebensache. Im Gegenteil: Die Bad Seeds eskalieren aus ruhiger Melancholie immer wieder mit explosiven, aber hochdifferenzierten Noise-Ausbrüchen. Ellis’ Sound-Ideen für Geige und Gitarre betören regelrecht. Die Rhythmussektion Thomas Wydler (Drums), Martyn P. Casey (Bass) und Jim Sclavunos (Percussion) agiert, als würden sie sich ein Gehirn teilen - und das nicht nur bei wunderbar groovenden Nummern wie dem literaturnobelpreisverdächtigen „Higgs Boson Blues“ oder „Red Right Hand“. Gitarrist George Vjestica trägt geschmackssicher zur nach kurzen Anfangsschwierigkeiten fast perfekt produzierten Klangfülle bei, genau wie die neue Keyboarderin Carly Paradis. Ebenfalls neu, etwas überraschend, aber spirituell gesehen konsequent: der Einsatz eines dreiköpfigen Gospelchores aus Janet Ramus, T Jae Cole und Subrina McCalla. Diese Konstellation ist in Crescendo-Momenten fast opernreif. Etwa wie in der von der Bühnentechnik effektvoll verstärkten Song-Apokalypse „Tupelo“. Der alte Hit „The Mercy Seat“ oder das Duett „Henry Lee“ lassen es einfacher angehen - und räumen damit auch ab.

Vor dem „Higgs Boson Blues“ zeigt Cave bedeutungsvoll auf den Sichelmond am wolkenlosen Nachthimmel. Wiederum fast wundersam löst ein Zufallsauftritt die letzte Beklemmung, den man bei einem US-Fernsehprediger für inszeniert halten würde: Ein strahlender kleiner Junge mit Bad-Seed-T-Shirt taucht auf den Schultern seines Vaters im Publikum auf und fächert dem verblüfften Cave Luft zu, der ihn anschaut wie eine Erscheinung - oder einen Gottesbeweis. Das wiederholt sich in der Zugabe mit einer jungen Frau, die ihr Glück kaum fassen kann, während Cave den Text von „Mermaids“ mit beruhigenden Zeilen an ihren womöglich eifersüchtigen Ehemann ergänzt.

Das Nichtglaubensbekenntnis „Into My Arms“ wird mitgesungen wie auf dem Kirchentag - auch das wirkt stimmig. Cave fasst die spezielle Atmosphäre dieses Abends hintersinnig zusammen mit den Worten: „It’s a virus, a virus of kindness“ (frei übersetzt Es ist ein Virus, ein Virus der Menschlichkeit). Wohl, um nicht ganz widerspruchsfrei zu bleiben, endet der Abend fast misogyn mit „Jack The Ripper“. Epochaler hätte die Premiere der Schlossfestspiele in Rastatt kaum ausfallen können. Zumal sie pandemiebedingt nur aus diesem Konzert besteht.

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