Ludwigshafen. Bei Bankiersgattin Selma Oppner, geborene Goldschmidt, gibt es klare gründerzeitliche Regeln: „Kinder bei Tische: stumm wie die Fische!“ Menüs und Klunker dürfen nicht zu üppig ausfallen, und Frauen, die zu laut lachen, nennt Johanna Eiworth, die von 2018 bis 2020 am Nationaltheater Mannheim engagiert war, in grandioser Figurenzeichnung „eine überspannte Person“. Solche kommen ihr - ebenso wie „Soubretten von zweifelhaftem Ruf“ - selbstverständlich „nicht ins Haus“.
Seit drei Jahren ist Eiworth nun eine feste Ensemblestütze der Münchner Kammerspiele unter Barbara Mundel, von wo sie mit elf Kolleginnen und Kollegen der Produktion „Effingers“ nun an zwei Abenden auf die Bühne des Theaters im Pfalzbau kam. Ihre üppige Kronprinzessin-Cecilie-Frisur hat Hutschachtelgröße und passt mindestens ebenso gut zu ihr wie die steifgestärkte Bluse - und ihr Gemahlsgatte. Er heißt Emmanuel, trägt einen kaiserlichen Backenbart und gibt nicht minder zeitgeistige Bonmots von sich: „Die Frau ist der Schmuck des Mannes!“ Gespielt wird er von Edmund Telgenkemper, der mit Frack und Frisiercreme zur Welt gekommen zu sein scheint.
Die Welt, die es hier über dreieinhalb Stunden zu erforschen gilt, ist die industrielle Gründerzeit nach Reichsgründung im Allgemeinen und die des jüdischen Großbürgertums im Besonderen. Gabriele Tergit (1894-1982) hat diese Welt in ihrem 1951 veröffentlichten Roman „Effingers“ sprachlich in eine 900 Seiten starke Form gegossen und somit ein jüdisch-preußisches Pendant zu den protestantisch-hanseatischen „Buddenbrooks“ Thomas Manns geschaffen.
Die Buddenbrooks in Berlin
Sprachlich weniger blumig, ein halbes Jahrhundert später und im Nachkriegsdeutschland wesentlich unbemerkter freilich. Die Neuauflage von 2019 wurde zur echten Entdeckung - und zur Grundlage der szenischen Fassung von Regisseur Jan Bosse und Dramaturgin Viola Hasselberg, die im fast leeren Bühnenraum lediglich einen Glaskasten ausstellen (Stéphane Laimé), der Bilderrahmen, Dashboard und Projektionsfläche in einem ist. Kathrin Plaths immer einen Hauch überhöhte Frisuren und Kostüme setzen darin bühnenbildnerische Akzente, Arno Kraehan musikalische.
Tergits autobiografisch grundiertes Porträt einer jüdischen Familie zwischen 1883 und 1942 ist ein Ritt - ein solcher ist pantomimisch zur Pause hin als launiges Kabinettstück des Ensembles auch zu sehen - durch einen individuellen Stammbaum sowie die Lebens- und Gedankenwelt zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur. Wir sehen, wir hören, erfahren von aufblühenden Hoffnungen jüdischer Kriegsteilnehmer, im neuen Nationalismus endlich Gleichberechtigung zu erlangen. Doch der liberale Onkel Waldemar (ernst und klug: der große André Jung) kann dennoch ungetauft keinen Ruf an die Berliner Universität erhalten.
Wir erfahren (handwerklich großartig gemacht) in dokumentarisch-dialogischen Verschränkungen von der maschinellen Fertigung als Grundlage der Massenherstellung, blicken auf wirtschaftlichen Ehrgeiz „der Redlichkeit, des Einteilens, des Hochhungerns“ und von Fehleinschätzungen: „Im Gasmotor liegt die Zukunft!“ Der klassizistischen Kühle Berlins folgt die bürgerliche Sehnsucht nach Holzvertäfelung, Schabracken, Kassettendecken, Samt und Seide, schwülstig wird sie, die neue deutsche Gemütlichkeit.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Im Besonderen erzählt diese an Struktur klare und selbst an den Szenenübergängen blitzsaubere Inszenierung eine Familiengeschichte, im Allgemeinen ist es eine klug unterhaltende tour d’horizon durch deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die das Menschliche zum Anschaulichkeitsmittel zu nutzen weiß. Die Jungunternehmer Karl (Bekim Latifi) und Paul Effinger (Christian Löber) könnten auch Carl Benz oder Friedrich Engelhorn heißen, ihr Töchter (Katharina Marie Schubert - eine Präsenzsensation, Julia Gräfner, Katharina Bach, Anna Gesa Raija Lappe) werden von Rüschen und Schillerlocken bald befreit den Feminismus tanzen, wie es Johann Eiworth als Ausdruckstänzerin Isadora Duncan tut (bravo!), oder lautstark singen: „Raus mit den Männern aus dem Reichstag!“ Der wilhelminisch-expressionistische Reigen hat mit Doppelrollen, Materialmasse und Einlagen durchaus mal Längen - für 220 Spielminuten aber erstaunlich wenige. Die finale Schoah lässt Bosse fast aus, endet mit den Ahnungen des liberalen Waldemar und dessen bewegendem Toast auf Unaussprechliches: „Auf das Leben - und seine Schönheit.“