Das Interview - Regisseurin Johanna Wehner bringt Sasa Stanisics Werk „Herkunft“ am Samstag auf die Bühne des Mannheimer Nationaltheaters

Johanna Wehner bringt "Herkunft" auf NTM-Bühne und spricht über dessen Nicht-Inszenierbarkeit

Von 
Martin Vögele
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Die Tankstelle als Sehnsuchtsort der Erinnerungen: Johanna Wehner in ihrem Bühnenbild für die Premiere „Heimat“. © Manfred Rinderspacher

„’Herkunft’ ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung“, notiert Sasa Stanisic mit Blick auf sein 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetes Werk. Regisseurin Johanna Wehner dramatisiert das fiktionale Selbstporträt des in Heidelberg aufgewachsenen Autors am Mannheimer Nationaltheater. Premiere ist am 18. September. Ein Gespräch über Wahrheit, Zwiebelsaft und eine Tankstelle als Ort der Erinnerung.

Frau Wehner, was sind die zentralen Anknüpfungspunkte, die Sie mit „Herkunft“ verbinden?

Johanna Wehner: Ich hatte den Roman geschenkt bekommen, fand ihn Wahnsinn und dachte sofort: Das kann und sollte man nicht inszenieren. Da bleibe ich auch bei - ich mache es trotzdem (lacht). Wo ich spontan einsteigen kann, ist vielleicht meine Verbindung zur großmütterlichen Welt. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in einem Dorf in Niederbayern. Ich habe da einige Sachen mitgenommen, die eine kräuterhexenartige Rolle spielen in meinem Berliner großstädtischen Leben. Zum Beispiel, wenn irgendjemand Husten hat in meiner Familie, dann kochen wir, wie meine Oma das gemacht hat, Zwiebelsaft aus (lacht). Was mir aber vor allem entgegen kommt, ist die unglaubliche Art, wie Sasa Stanisic mit dem Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit umgeht: Er vermischt Wahrheit nicht mit einem Faktencheck, sondern geht extrem raffiniert, verwirrend, immer wieder sich selbst unterlaufend mit dem um, was man für wahr hält, was man so und so erlebt hat, was sich im Nachhinein faktisch anders darstellt.

„Herkunft“ 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet

Johanna Wehners Theaterfassung von „Herkunft“ nach dem Roman von Sasa Stanisic feiert am Samstag, 18. September, 19 Uhr, Premiere im NTM-Schauspielhaus.

Wehner wurde 1981 in Bonn geboren. Dort und im schottischen St. Andrews studierte sie Philosophie und Germanistik, anschließend Opern- und Sprechtheaterregie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München.

Sie arbeitete unter anderem in München, Heidelberg, Jena, Freiburg, Frankfurt und Stuttgart. 2013/14 co-leitete sie das Regiestudio des Schauspiels Frankfurt. Von 2014 bis 2017 war sie Oberspielleiterin am Stadttheater Konstanz. 2017 wurde sie mit dem Faust-Preis ausgezeichnet.

Sasa Stanisic wurde 1978 in Viegrad, damals Jugoslawien, geboren. Während des Bosnien-Krieges flüchtete er 1992 mit seinen Eltern nach Deutschland und kam nach Heidelberg. 2013 war er Mannheimer „Feuergriffel“-Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur.

Seine Bücher wurden vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt „Herkunft“ 2019 den Deutschen Buchpreis.

Wie setzen Sie das auf die Bühne?

Wehner: Für die Inszenierung spielt ein Aspekt an diesem Roman eine richtungsweisende Rolle: Herkunft, Zugehörigkeit, wenn wir das politisch noch etwas umformulieren: Nationalität ist meistens etwas, was ganz schnell zum Fundament für Exklusion wird. Aber obwohl der Roman eine existenzielle „Herkunft“-Geschichte beschreibt, die mit einem enormen Schicksal verbunden ist und einem ebenso enormen Werdegang, der daraus entstanden ist, hat er eben nicht dieses exklusiv nur sich selbst Vertretende. Sondern in jedem einzelnen Satz werden tausend offene Fäden Richtung Rezipientin und Rezipient gesponnen. Ein wichtiger praktischer Gedanke war dieser Aspekt der Nicht-Inszenierbarkeit: Ich fragte mich, wie willst du das überhaupt machen, wie willst du dieses Anekdötchen schildern und dich von anderen verabschieden? Also folgte ich der Spur, dass ein ‘Ich habe das und das erlebt’ im Roman bewusst inkonsistent behandelt wird. Wir kennen das ja selbst: Man hat unterschiedliche Rollen und ist eigentlich selbst immer schon ein sich widersprechender Chor. Genau dieses - ich nenne es einmal multiple Gehirn - des Romans und des Lebens habe ich zur Basis der Inszenierung gemacht. Das heißt, wir haben nicht Sasa Stanisic auf der Bühne, wir haben auch nicht die Oma auf der Bühne, wir haben auch kein Erzählkollektiv, wo Rollen gewechselt werden, sondern alle sind immer alles und gar nichts zugleich - auch Spieler, auch Erzähler, auch Schriftsteller, Omis, auch Leute, die sich erinnern, manchmal Geister, manchmal die Vergangenheit.

Es gibt ein grandioses Tankstellen-Bühnenbild. Wie wichtig ist die bildhafte Ebene?

Wehner: Sie ist insofern immer wichtig, dass man atmosphärisch in eine Welt eintaucht. Das Erscheinungsbild spielt immer eine Rolle für die Erzählmatrix, in der man sich befindet. Die Aral-Tankstelle ist im Roman ein zentrales Motiv. Gar nicht so sehr, das weiß ich auch aus den Gesprächen mit Sasa Stanisic, als konkreter Ort, wo sich tatsächlich wahnsinnig lange Episoden seiner Jugend abgespielt haben, sondern eher als Sehnsuchtsort. Jeder hatte ja in seiner Jugend oder im Erwachsenenalter bestimmte Cafés, Kneipen, Tankstellen, Plätze, an denen sich Initiation abgespielt hat. Dieser virtuelle reale Ort war für mich ein guter Anhaltspunkt, weil der Abend, die ganze Spielweise, sehr abstrakt wird. Da gibt es kein Requisit, da gibt es kein Gefummel mit konkreten Dingen. Das ist ein einziger Erinnerungsraum. Und deswegen war mein Gedanke: Lass und das irgendwie konkret in der Gegend verorten. Wir haben eine „Klassenfahrt“ gemacht zu dieser Tankstelle in Heidelberg, im Emmertsgrund. Fantastische Aussicht. Genau wie im Buch.

Freier Autor

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