Adelante - Mit fulminanten Gastspielen blickt Heidelbergs Theater auf Dramatik aus Chile, Mexiko und Venezuela

Hitziges aus der Familienhölle

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Starker Auftakt zum Adelante-Festival: Im mexikanischen „Kürbishaus“ mit Schauspieler Alfredo Monsivais werden unter der Regie von Isael Almanza familiäre Konflikte thematisiert. © Reichardt

Manchmal, da hat es ja auch etwas beruhigendes, das Unglück. Als menschheitsverbindender Kitt dienen uns die weltweiten Dramen an Küchen- und Couchtischen, wenn wir sie auf der Bühne und womöglich noch mit Schicksalsdarstellern sehen, von denen wir uns weit entfernt wähnen. In Heidelberg, wo Adelante-Spielstätten, Foyers und Treppen voll sind wie die gerührten Herzen der Zuschauer (ob der gesehenen Geschichten) und Schauspieler (ob des für sie ungewohnt herzlichen Applauses deutscher Zuschauer), blicken wir in Abgründe. In die staubiger Straßenschluchten und steiler Küsten, vor allem aber in jene, die uns am vertrautesten sind – die der menschlichen Seele.

13 Aufführungen aus elf Ländern

  • 2017 hat das Theater und Orchester Heidelberg zum ersten Mal Gastspiele aus dem spanisch- und portugiesischsprachigen Raum Amerikas gezeigt.
  • Mit Förderung des Landes Baden-Württembergs, der Stadt Heidelberg, lateinamerikanischer und internationaler Theaterverbände und vor allem des Goethe-Instituts sowie lokaler Sponsoren gelang es Intendant Holger Schultze nun, die zweite Auflage des iberoamerikanischen Festivals zu veranstalten.
  • Bis zum 8. Februar zeigt Adelante eine Woche lang 13 deutsch übertitelte Gastspiele aus elf Ländern, darunter auch internationale Koproduktionen. Die Künstlerische Leitung haben Schultze und Lene Grösch inne. Ilona Goyenesche und Jürgen Berger kuratieren.
  • Am Dienstag stehen die bolivianische Aufführung „Princessas/Prinzessinen“ um 18.30 Uhr im Zwinger 3 und um 20.30 Uhr „La Flauta Mágica/Die Zauberflöte“ im Marguerre-Saal auf dem Programm.
  • Restkarten erhältlich unter: 06221/58 20 000. rcl

Keine Hölle brennt so heiß wie der der eigenen Familie. Zur Muttermörderin ist etwa die Mexikanerin Maye Moreno geworden. Familiäres Schweigen, Drohen und Ablehnung haben sie im orange angestrichenen „Kürbishaus“ ihrer Eltern dazu gemacht. Im Rahmen eines staatlichen Sozialprojekts ist ein Theaterstück gleichen Namens entstanden, das im Zwinger 3 zeigt, wie es so weit kommen konnte. Die Aufarbeitung der einsitzenden Autorin, die ihre eigene Figur in drei Schwestern aufteilt, ist von sprachlicher Brillanz– und in der auf choreographisch durchbrochenen Realismus setzenden Regie von Isael Almanza auch ein beklemmendes Theatererlebnis, das nachwirkt.

Schräge „Zauberflöten“-Revue

„DAS ist NICHT die Zauberflöte!“, sagt das etwa zehnjährige Mädchen ungefähr alle zehn Sekunden mit großen Augen zu seiner Mutter. Recht hat es. Sie tut es solange, bis sie Eltern und Bruder überzeugt hat, zu gehen. Wohl aus Versehen war die Familie in eine Veranstaltung geraten, die man leicht als Bearbeitung der Mozart-Oper hatte missverstehen können. Der chilenische Komponist Horacio Salinas, Landsmann und Gegenwartsdramatiker Guillermo Calderón und die mexikanische Librettistin Julieta Venegas haben es im Verbund und unter der Regie des portugiesisch-chilenischen Regisseurs Antú Romero Nunes unternommen, den Stoff zur „La Flauta Mágica“ umzuschreiben. Mit viel Superlativen wurde das Team im Vorfeld bedacht.

Was dabei herauskam, ist eine schräge Nummernrevue um eine schreckliche Schauermärchen-Kindheit Paminas zwischen Gleichgültigkeit und Kindesmissbrauch. Schrill, laut und wahnwitzig, aber in starken Momenten auch mal an Wucht und Ästhetik der spanischen Meister-Performerin Angelica Liddell heranreichend. Für den großen Wurf wirkt zum einen die Musik dann aber doch zu harmlos und zum anderen das Spiel mit Darstellern aus sieben Nationen mehr gut gemeint als packend.

Krisen unterhaltsam verbunden

Psychoanalytisch überkoloriert sind Text und Mummenschanz: Grimms „Rotkäppchen“ und Schikaneders „Zauberflöte“ kulminieren mit Mariananda Schempp in einer Rolle zwischen bösem Wolf, Sarastro und Chiles Präsidenten Sebastián Pinera. Ansonsten hätte hier auch Hans-Walter oder Inge heißen können, was allenfalls pseudo-zauberflötisch Tamino, Papagena oder Königin der Nacht heißt.

Ob „Unser aller Vater“ (El padre de todos nosotros) nun überzeugter Kommunist war oder nicht, lässt sich im Zwinger 1 nicht mit Gewissheit sagen. Doch das ist nicht die einzige Ungewissheit mit der fünf Geschwister umzugehen haben. Verbeult und hinfällig wie die Keksdose mit der Asche Papas ist auch die hinterlassene Immobilie – und freilich auch die Interpretation eines Lebens, auf das jedes Kind einen eigenen Blick hat.

Der Text von David Desola, den Guillermo Díaz Yuma für Theaterzentrum TET in Caracas inszeniert hat, ist nicht weniger als eine glänzend funktionierende Tragikomödie, die weder auf Humor noch auf Tiefgang verzichtet: Veritables Schauspielerfutter, an dem sich das bestens aufeinander eingestellte Ensemble aus Venezuela mit großer Spielfreude labt. Dass die Familienhölle auch hier zwischen Eifersucht, Inzucht und Geldgier heiß brennt, versteht sich fast von selbst. Ein Meisterstück, dass hierbei auch Politik nicht zu kurz kommt. Alles eine Frage der Haltung? Den Kindern steht ein Batzen Geld ins Abbruch-Haus, denn posthum soll der zweifelhafte Heldenvater zum Werbeträger für Coca Cola werden. Geplanter Slogan: „Man sucht sich nicht aus, ein Held zu sein.“

Selten verbinden sich die Krisen von Kommunismus, Kapitalismus und Familie so klug unterhaltend. Darauf folgt dementsprechend tropischer Applaus im sowieso verregneten Heidelberg.

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.