Das Interview - Walter Nußbaum über das Neue-Musik-Festival in Heidelberg, politischen Wandel in Europa, Relevanz und die Standortfrage

"Diktaturen misstrauen freier Kunst"

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Will mit Musik die Wahrnehmung - auch für politisch Extremes - schärfen: Walter Nußbaum.

© Dettlinger

Morgen startet in Heidelberg das Diktaturen-Festival. In Universität und Hebel-Halle gehen bis Sonntagabend sieben Uraufführungen, Filme, Vorlesungen und Diskussionen über zeitgenössische Musik, Film, Gesellschaft und Politik über die Bühne - veranstaltet vom Klangforum Heidelberg und seinem künstlerischen Leiter Walter Nußbaum. Mit ihm telefonierten wir und unterhielten uns über das Festival.

Nußbaum und "Diktaturen"

  • Walter Nußbaum: Der Dirigent ist in Kehl geboren, studierte Kirchenmusik, Orgel und Dirigieren. Bis 1992 war er Kantor. 1992 gründete er auch die Schola Heidelberg und das Ensemble Aisthesis. Mit beiden ist er längst in Deutschland und Europa ein Begriff. Nußbaum, der Chorleitung und Dirigieren an der Musikhochschule Hannover lehrt, gastiert - unter anderem - auch in Opernhäusern.
  • "Diktaturen" in Heidelberg: 25.10., 18 Uhr: Vorlesung "Der moderne Kommunismus" (Neue Uni). 26.10., 18 Uhr: Eröffnung und Film "Was geschah mit Elisabeth K.?" (Alte Aula). 27.10., ab 18 Uhr: Lesung und Konzert I (Neue Aula). 28.10., 14 Uhr: Lesung "Writers in Exile", 16 Uhr: Konzert II (beide Alte Aula), ab 18 Uhr: Lesung und Konzert III (Hebelhalle). 29.10., 11 Uhr: Roundtable (Hebelhalle), ab 16 Uhr: Einführung und Konzert IV (Hebelhalle).
  • Info: http://klangforum-heidelberg.de  

Herr Nußbaum, noch nie gab es so viel Demokratie auf der Welt. Diktaturen sind heute eine Seltenheit. Warum machen Sie ausgerechnet jetzt ein Diktaturen-Festival?

Walter Nußbaum: Der Anlass liegt drei Jahre zurück. Damals sah ich den Film "Das Mädchen - Was geschah mit Elisabeth K.?" Diese erschütternde Dokumentation über das Schicksal Elisabeth Käsemanns, die von der argentinischen Diktatur 1977 umgebracht worden ist und der die deutsche Diplomatie nicht helfen konnte oder wollte, zog viele Gespräche nach sich. Der Film wird beim Festival gezeigt. Damals zeigte sich die Situation nicht so prekär wie heute. Aber die rechten Ränder in Europa wurden schon lauter. Es sind immer wieder Kunstschaffende, die solche Veränderungen sensibel wahrnehmen und eine Aufgabe darin sehen, in ihrer Kunst zu reagieren.

Hat das, was Sie rechte Ränder nennen, etwas mit Diktatur im politischen Sinne zu tun, oder steht das Wort vielmehr für eine Geisteshaltung, die es ja auch in der Neuen Musik lange gab?

Nußbaum: In ganz Europa scheint die Geisteshaltung im Begriff, sich zu verändern - daraus folgt das politische Handeln. Diktaturen beargwöhnen grundsätzlich freie Kunst. Wenn Sie jedoch in der Kunst so etwas wie absolute Positionen vorfinden, können Sie sich dem entziehen. Sie werden dafür weder verprügelt noch eingesperrt. Viele Künstler haben sich diesen Positionen verweigert und dennoch ihr Publikum gefunden.

Zum Konzept des Festivals gehören Uraufführungen von Komponisten aus repressiven Systemen. Merkt man es der Musik an, unter welchen Umständen sie entstand?

Nußbaum: Die Textvorlagen, die Xilin Wang aus China oder der Türke Mithatcan Öcal verwenden, sprechen in Parabeln von realer und verbaler Gewalt, von dem, was in den Köpfen geschieht, und die Musik ist kraftvoll. Da ist der Zusammenhang sehr deutlich. Dennoch können Sie Musik ohne Texte nie eindeutig zuordnen, außer vielleicht bei dem Stück von Alvaro Carlevaro aus Uruguay, in dem die elektronischen Geräusche fast an reale Folter erinnern. Bei Franz Schuberts Musik kommt das Wissen um die damalige politische Situation hinzu, wenn wir diese klangschöne Musik hören, und begreifen den Schmerz des Zuhörers bei der Gefangennahme der freien Forelle.

Was halten Sie von der Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz?

Nußbaum: Wenn wir Relevanz am unmittelbaren Echo ablesen wollen, das Kunst auslöst, dann kann das für den Kunstausübenden nicht das entscheidende Kriterium sein. Das würde bedeuten, dass der Wert der Kunst an ihrem Erfolg gemessen wird - statt an ihrem Potenzial an Freiheit. Die Geschichte zeigt, dass zunächst Unverständliches Zeit zum Verstehen braucht und auf viele Arten gesellschaftliche Bedeutung erlangen kann.

Also verfolgen Sie mit Kompositionsaufträgen auch einen Weg zwischen politisch oder gesellschaftlich funktionalisierter Musik und einer Art l'art pour l'art?

Nußbaum: Wir wollen weder das eine erzwingen noch das andere diktieren. Das Wesen der Musik liegt für uns in der Aisthesis, der Wahrnehmung: Um ihre Schulung und Differenzierung geht es uns - in der Kunst wie in der Gesellschaft. Im vielschichtigen und immer neuen Wahrnehmen liegt die Kunst, nicht im alternativlosen Argumentieren...

Gutes Stichwort. Wie alternativlos ist Heidelberg als Standort? Man hört, Sie wollten ein Standbein in Mannheim, oder Mannheim wolle Sie mit dem Ensemble Aisthesis gewinnen. Ist da was dran?

Nußbaum: Standorte gegeneinander auszuspielen, liegt uns fern. Wir wollen in größeren Zusammenhängen, nicht in kleinen denken. Der Sinn und der Reiz kultureller Arbeit in unserer Metropolregion liegen für uns in der Vielfalt des Publikums, aber auch in der Verschiedenartigkeit der Konzepte städtischen Zusammenlebens - wie wir ihnen auch auf unseren Gastspielen vielerorts in Europa begegnen. Das inspiriert uns immer wieder neu - unsere Energie aber setzen wir nicht bei der Standortsuche, sondern in Inhalten und musikalischer Kommunikation ein.

Das klingt sehr diplomatisch und, nun ja, wie von einem Politiker...

Nußbaum: Wir schätzen Ihre investigativen Fragen - aber lassen Sie uns nicht über ungelegte Eier diskutieren! Wichtig ist uns natürlich, für das Ensemble Aisthesis - das aktuell mit einem Stück von Gérard Grisey einen Auftritt in der Elbphilharmonie hat - ähnlich professionelle Arbeitsbedingungen wie für die Schola Heidelberg herzustellen. Das ist mit dem zeitgenössischen Schlagzeugarsenal, Live-Elektronik und komplex gemischten Ensemblebesetzungen natürlich immer wieder eine echte Herausforderung...

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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