Lesen.Hören

Die Art von Zumutung, die es für das Erinnern braucht

Beim Literaturfestival Lesen.Hören beschäftigen sich Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree mit Texten von Überlebenden der Shoa - und kämpfen gegen das Vergessen

Von 
Maria Herlo
Lesedauer: 
Carolin Emcke und ihre Mitstreiterinnen erinnern an den Holocaust. © A. Labes

Wenn man sieht, wie sich junge Publizistinnen und Schriftstellerinnen heute Sorgen machen, wie es mit dem Gedenken an die Shoah ohne unmittelbare Zeugen weitergeht, muss man sich um zukünftige Generationen keine Sorgen machen. Sie werden weiterhin einen Blick in den Abgrund des Grauens werfen und an die bestialischen Taten der Nazis erinnern. Das Literaturfestival Lesen.Hören hat es nun ausprobiert.

Zum Themenschwerpunkt „Gegen das Vergessen“ saßen am Donnerstagabend drei Expertinnen auf der Bühne der Alten Feuerwache: die Autorin und Publizistin Carolin Emcke, die Journalistin und Schriftstellerin Lena Gorelik und die Schauspielerin und Filmemacherin Maryam Zaree. Vor zahlreichen Zuhörern lasen sie mit unerhörter Eindringlichkeit Texte von Autoren, die Zeugnis ihres Überlebens ablegten und gegen das eigene Vergessen und das Verschweigen der anderen anschrieben.

An das Leid erinnern

„Wir haben ein Jahr an diesem Programm gearbeitet und darüber nachgedacht, welche Art von Zumutung es braucht, um sich auf angemessene Weise den unterschiedlichsten Stimmen, die aus eigener Erfahrung vom Holocaust berichten, zu nähern“, erklärte Carolin Emcke dem Publikum. Angetrieben waren alle drei vom Unmut, wie in dieser Gesellschaft immer wieder von „nie wieder“ gesprochen wird, eine Formulierung, die zunehmend hohl wirkt. „Jede Form der Erinnerung macht keinen Sinn, wenn man nicht ausbuchstabiert, an was eigentlich erinnert werden soll“, sagte Emcke.

Ihr Anliegen sowie das ihrer Mitstreiterinnen war eben dies: durch literarische Texte in Erinnerung zu rufen, woran erinnert werden soll. Es sei ganz wichtig, dass das Leid unterschiedlichster Opfergruppen in die Erinnerungskultur mit einbezogen werde – darin waren sich alle drei einig, denn viele Menschen mit Holocausterfahrung werden einfach vergessen. In seinem berühmten Buch „Ist das ein Mensch?“ zeigt Primo Levi auf, wie das Menschsein in der Shoa aberkannt wurde, Ruth Klüber wirft in „weiter leben. Eine Jugend“ genau wie Imre Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ einen kindlich naiven Blick auf das Geschehen.

Jean Améry schrieb nach 20 Jahren Schweigen „Jenseits von Schuld und Sühne“, das nicht nur luzide, sondern auch zornig die Barbarei analysiert. Aufgrund der Tatsache, dass Lutz van Dijk schwul war, kam er ebenfalls ins Konzentrationslager, und der Bericht des Zeitzeugen Franz Rosenbach erinnerte an den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma. Auszüge aus dem Buch „Auschwitz und danach“ von Charlotte Delbos zeigten ihren ungebrochenen Willen zu überleben auf.

In der anschließenden Diskussion verbat sich Carolin Emcke jede Ausschmückung des Grauens durch die eigene Vorstellungskraft. Trotzdem sei sie nötig, meinte Insa Wilke, „denn was man über das Schlimmste aller Menschheitsverbrechen erfahren kann, braucht vor allem Empathie und Fantasie“. Auf Wilkes Frage, ob Rituale helfen, die Erinnerung wach zu halten, wusste niemand eine schlüssige Antwort. Doch ist es die Stärke des Mannheimer Literaturfestivals, dass es solche Fragen stellt.

Freie Autorin

Mehr zum Thema

Festival Auftakt von Lesen.Hören in Mannheim: Politische Nebentöne überall

Veröffentlicht
Mehr erfahren

Das Lächeln nicht verlieren! Willi Weitzels Bilderbuch „Der Frieden ist ausgebrochen“ soll Eltern helfen, mit Kindern über Krieg zu sprechen

Veröffentlicht
Mehr erfahren

Kolumne #mahlzeit Warum eine Frau eine Frau eine Frau ist

Veröffentlicht
Mehr erfahren