Mannheim. Es sind dies tief bewegende zwei Stunden im Mannheimer Luisenpark, die so lange Zeit ihresgleichen suchen dürften. Und das keineswegs, weil der Seebühnenzauber an großen Repräsentanten der musikalischen Zunft oder emotionalen Höhepunkten arm wärme. Doch was R&B-Stimme Cassandra Steen der Quadratestadt an diesem Abend schenkt, hat Einzigartigkeitscharakter – und das in vieler denkbarer Hinsicht.
Das beginnt schon beim melodischen Fundament, das Steens Band in ganz souveräner Manier aufbaut. Allein Tobias Bischoffs Klavier-Intro zum Opener „Gewinnen“ strahlt eine solch dynamische Schönheit aus, dass man ins Schwärmen geraten möchte – von seinen groovigen Akkordläufen am Keyboard hat man da noch gar nicht gesprochen. Doch auch Drummer Michael Grabinger liefert einen schlaggenauen, dennoch lässigen Hintergrund, den Gitarrist Julian Elsesser fast schon bequem dazu nutzen kann, mit seiner Saitenkunst aufzutrumpfen.
Was hier an Kollektivsound entsteht, manifestiert sich zu einem feinen, offenporigen Netz, in das sich Cassandra Steen regelrecht fallen lassen kann, um stimmlich nach Belieben zu brillieren. Die Vorzeichen dafür scheinen an diesem Abend gleich doppelt günstig. Denn einerseits erwischt die heute 41-Jährige in Mannheim einen Tag, an dem ihr strahlendes, fast schon unbesiegbares Lächeln Auskunft über eine Spielfreude gibt, die sich nahtlos in Qualität ummünzt. Andererseits beflügelt auch das Publikum die Protagonistin dieser Stunden sichtlich. Da mögen die Reihen nicht restlos belegt sein – doch diejenigen, die bei traumhaftem Sommerwetter den Weg an die Seebühne gefunden haben, darf man gut und gerne als verständige Kenner bezeichnen, die zu schätzen wissen, was sie hier offeriert bekommen.
Cassandra Steen
- Die Sängerin, die auch heute noch die amerikanische Staatsangehörigkeit besitzt, wuchs bei ihrem Großvater, einem GI, auf dem Armeestützpunkt der Nellingen Barracks auf
- Erste Bekanntheit erlangte Steen mit 17 Jahren als Sängerin der Hip Hop-Formation Freundeskreis
- 1999 wurde Moses Pelham auf die Sängerin aufmerksam und gründete gemeinsam mit ihr Glashaus, deren Leadsängerin sie bis 2008 und ab 2016 wurde
- Parallel startete Steen eine Solokarriere und nahm mit dem Song „Darum leben wir“ am Bundesvision Song Contest teil, bei dem sie den vierten Platz belegte
- Im Verlauf ihrer Karriere arbeitete Cassandra Steen mit Branchengrößen wie Azad, Bushido, Adel Tawil und Xavier Naidoo zusammen
- In Mannheim stand die Sängerin gemeinsam mit Tobias Bischoff (Keyboard), Julian Elsesser (Gitarre) und Michael Grabinger (Schlagzeug) auf der Bühne
- Steen setzt sich seit vielen Jahren für den Tierschutz ein, ist PETA-Botschafterin und setzt sich als UN-Beauftragte der Dekade Biologische Vielfalt ein
In toto entsteht so eine Atmosphäre, in der Cassandra Steen quasi alles gelingt. Anmutig führt Steens fragile Stimme uns das eigene „Spiegelbild“ vor Augen, taucht mit Sarah McLachlans „Angel“ in romantische Tiefen oder macht selbst der großen Alicia Keys alle Ehre („If I Ain’t Got You“). Dass der Sängerin dabei nicht nur kaum ein Ton verrutscht, sondern ihr Organ Soul und Gefühl gleichermaßen maximiert, führt im Verlauf der gut 100 Minuten immer wieder zu Stürmen der Euphorie, die verdienter kaum daherkommen könnten.
Zumal Steen ihr Konzert auch dramaturgisch klug und durchdacht in Szene setzt. Denn einerseits dürfen wir der Diva dabei zuhören, wie sie Trauer, Leid und Depression musikalisch („Kraft“) aber auch anekdotisch völlig offen und klar ausspricht und wirken lässt. Andererseits schwingt sich Steen zwischen dem Glashaus-Klassiker „Ohne dich“ und dem Hit mit Tim Bendzko („Unter die Haut“) auch wieder auf, strotzt in den hohen, langen Tönen voller Stärke und vermittelt so Hoffnung und Zuversicht gleichermaßen. Als Höhepunkt dieses energetischen Spiels darf man sicher die R&B-Adaption von Lauryn Hills „Everything Is Everything“ verstehen, dem Steen nicht nur Unmengen an Groove hinzufügt, sondern auch im Rap-Part makellos besteht.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind – aller Maskenpflicht und Abstandsgebote zum Trotz – auch im Zuschauerraum sämtliche Deiche gebrochen. Die Fans stehen auf, tanzen vor den eigenen Sitzplätzen, singen mit und klatschen im Takt. Das Konzert wird so zum Fest und das Motto „Darum leben wir“ zum Leitmotiv einer Sternstunde im Luisenpark. Als Cassandra Steen dann auch noch das „Grundrecht Liebe“ ausruft, scheint es tatsächlich so, als sei auf dem Höhepunkt der Gefühle nahezu alles möglich. Und in der Tat setzt sich der Mut der Hauptdarstellerin fort. Dass sie eine der wenigen ist, die trotz aller Verschwörungsphantasien nicht mit ihrem Freund Xavier Naidoo gebrochen hat, brachte der Künstlerin nicht nur Freunde ein. Doch auf der Seebühne performt die Sängerin mit „Ich fühl‘ es nicht“ mehr als einen Song, den der Mannheimer ihr einst für die Platte „Mir so nah“ schrieb – sie verteidigt Naidoo auch lautstark mit den Worten: „Man darf seine Meinung sagen, auch, wenn man eine andere vertritt!“
Dem Enthusiasmus tut das keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Als Steen mit „Stadt“ den eigentlichen Abschluss vorlegt, um sich mit der Zugabe „Wenn das Liebe ist“ zu verabschieden, scheint es, als sei die Botschaft der Entfesselung erst vollends angekommen. Ein Gefühl von selten erhabener Schönheit.
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