Ohne Einstiegserklärung beginnt Rebekka Kricheldorf zu lesen. Zügig schlägt sie die Abschnitte auf, die in ihrem Debütroman „Lustprinzip“ mit Lesezeichen gekennzeichnet sind und beginnt nicht mit dem Anfang, sondern direkt in der Mitte des Buches. Die Szene: ein Gewaltausbruch, Prügel unter Rivalinnen, an der Lily beteiligt ist. Lily, deren Bafög „all ist“. Vergebens sucht sie nach Theaterrollen, spricht vor, aber die Jungs werden genommen. Den Job als Probandin für die Pharmaindustrie will sie nicht und einen, für den man früh aufstehen muss, auch nicht. „Lustprinzip“, das heißt aufgeschlüsselt wohl: aus Prinzip nur Lust, ein Bild, das Kricheldorf nach Berlin in die späten 1990 Jahre verlegt hat. Es geht um die Jugend, die rebellisch ist, radikal und eine Verweigerungshaltung an den Tag legt. Für sie heißt wild leben, frei leben.
Wie die Story weitergeht, wird nicht zu Ende erzählt. Aber dafür stellt Rebekka Kricheldorf ihr umgedichtetes Märchen von „Schneeweißchen und Rosenrot“ gegenüber. Wortgewand erzählt sie vom Inhalt, den Schwestern, die einträchtig im Wald leben. Vom Bären, den beide Mädchen lieben lernen, der sich als verwandelter Prinz herausstellt, Schneeweißchen heiratet und sein Bruder die Rosenrot zur Braut nimmt. Von diesem Grimm-Märchen, sagt sie, habe sie sich schon als Kind „verarscht gefühlt“. Für sie sei die Jugend anders. Nicht wie die artigen Schwestern, eher kraftvoll, manchmal radikal, auch gefährlich und dumm.
Die Szenen, die aus einem Theaterstück kommen, das die Dramaturgin vor 16 Jahren geschrieben hat, liest sie abwechselnd mit dem Moderator des Abends Hans Thill. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Mitbegründer des Heidelberger Wunderhorn-Verlages; zudem der künstlerische Leiter des „Künstlerhauses Edenkoben“, das die 47jährige Autorin als Stipendiatin noch bis zum Wochenende beherbergt. Die Dialoge sind spannend. Das Märchen ist expressiv geworden. Die Schwestern Rivalinnen. Sie sind aufgeblüht, begehren, sind eitel und buhlen um den Fremden. Eine Ménage-à-trois ist denkbar, erklärt die viel gespielte, vielfach ausgezeichnete und ehemalige Hausautorin des Nationaltheaters. Also nochmal ein „Lust-Prinzip“. Und ein weiteres, das zum Tagesende nachhaltige Gedanken hinterlässt.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Den Soldaten schuldig