"Die meisten Kinder entwickeln sich normal"

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Professor Brumlik, Bücher, die eine Rückkehr zur Disziplin fordern oder partnerschaftliche Erziehung kritisieren, stehen in den Bestsellerlisten ganz oben. Was ist los in Deutschlands Familien?

Micha Brumlik: Es besteht kein Zweifel daran, dass es gestörte Kinder und dass es Erziehungsprobleme gibt. Aber wenn Sie die Bücher von Herrn Winterhoff nehmen, frage ich mich, ob er aufgrund seiner Erfahrungen Rückschlüsse auf eine generelle Erziehungsproblematik ziehen darf. Das scheint mir nicht belegt.

Was ist denn belegt?

Brumlik: Das Robert-Koch-Institut hat eine große Umfrage unter 18 000 Schülern, Eltern und Lehrern gemacht. Dabei kam heraus, dass es bei 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen Hinweise auf eine psychische Störung gibt. Sicher, 15 Prozent sind zu viel. Aber im Umkehrschluss heißt das auch, dass 85 Prozent nicht auffällig sind. Übrigens: Die meisten auffälligen Kinder stammen aus der unteren sozialen Schicht.

Wie interpretieren Sie das?

Brumlik: Es ist ein starker Hinweis, dass beengte, ärmliche Lebensverhältnisse ein wichtiger Faktor sind. Und nicht etwa die partnerschaftliche Erziehung . . .

. . . die Herr Winterhoff als problematisch ansieht.

Brumlik: Eben. Die Shell-Jugendstudie hat sogar gezeigt, dass Kinder, die partnerschaftlich erzogen worden sind, später häufiger politisches und soziales Engagement zeigen.

Und doch kaufen Eltern massenhaft die Bücher von Michael Winterhoff und auch "Lob der Disziplin" von Bernhard Bueb.

Brumlik: Ich glaube, dass durch den Zuwachs an Liberalisierung und durch die Aufklärung über die Komplexität des Erziehungsgeschehens die Verunsicherung größer geworden ist. Das löst ein Bedürfnis nach Rezeptwissen aus.

Können Bücher das leisten?

Brumlik: Herr Winterhoff sagt, Eltern mögen doch wieder ihrer Intuition vertrauen. Aber das finde ich fahrlässig. Auch die Intuition kann zu falschen Verhaltensweisen führen.

Zum Beispiel?

Brumlik: Zum Beispiel die Auszeit. Ich halte es für falsch, wenn Kinder in der Hilflosigkeit ihrer Wut allein gelassen werden. Sie brauchen dann einen Erwachsenen, der sie hält, tröstet, der das aushält.

Das ist ziemlich anstrengend.

Brumlik: Niemand hat gesagt, dass Erziehung ein leichtes Geschäft ist.

Gibt es einen goldenen Weg in der Erziehung?

Brumlik: Ein Rezept gibt es nicht. Aber ein paar Regeln: etwa, dass ein Kind in der Not nicht allein gelassen werden soll. Dass Eltern es nicht mit unbegründeten Verboten traktieren sollen, dass ihm kein körperlicher und seelischer Schmerz zugefügt werden soll. Und - ganz wichtig - dass man es nicht mit den neuen Medien allein lassen soll.

Warum haben Eltern so Angst, bei der Erziehung zu versagen?

Brumlik: In den mittleren und oberen Schichten gibt es so etwas wie eine Statusangst, eine Angst, dass die Kinder den Sozialstatus nicht halten. Das spiegelt sich darin wider, dass immer mehr Eltern ihre Kinder auf Privatschulen geben. Und es schlägt sich in der Terminkalender-Kindheit nieder. Die Kinder werden ständig gefördert, beinahe zu viel. Das setzt sie unter Stress.

Brauchen Kinder Strafen?

Brumlik: Wenn man Strafe als psychischen und körperlichen Schmerz begreift, glaube ich nicht, dass sie zu einer positiven Entwicklung beiträgt. Es spricht aber nichts gegen Autorität. Zwar nicht als Ausdruck körperlicher Überlegenheit, sondern als Ausdruck einer akzeptierten und anerkannten Zuständigkeit.

Sollten Kinder gehorsam sein?

Brumlik: Gehorsam aus Einsicht, ja. Wenn Eltern Weisungen erteilen, und das müssen sie, dann sollten sie die erklären.

Und wenn das Kind trotzdem nicht folgt?

Brumlik: Wenn keine Gefahr droht, sollten die Kinder die Konsequenzen ihres Verhaltens spüren. Wenn sie ihre Jacke nicht anziehen wollen, kann man ohne rausgehen. Manchmal - zum Beispiel, wenn ein Kind nicht schlafen gehen will, hilft auch, sich ein bisschen Zeit zu lassen.

Was würden Sie verunsicherten Eltern raten?

Brumlik: Ich würde ihnen zu mehr Gelassenheit raten. Und sie sollten sich bewusst machen, dass Erziehung ein anstrengendes, anspruchsvolles, aber auch beglückendes Geschäft ist.