Es ist Mai im Jahr 1917, als die 16-jährige Francie mit ihrem Freund von der Brooklyn Bridge auf das nächtliche New York blickt. Brooklyn sei besser als Manhattan, erklärt Francie. „Dort herrscht so ein Gefühl“. „Man muss in Brooklyn leben, um es zu begreifen.“
Ein Glück, dass die Autorin Betty Smith sich schon 1943 die Mühe gemacht hat, dieses Gefühl für alle festzuhalten, die nicht dort aufgewachsen sind. In ihrem Roman „Ein Baum wächst in Brooklyn“, der 1944 für den Pulitzer-Preis nominiert wurde, erzählt sie die Geschichte von Francie und ihrer Familie, die als Zuwanderer in armen Verhältnissen in den Mietshäusern Brooklyns aufwachsen. Eike Schönfeld hat das Buch für den Suhrkamp Verlag neu übersetzt. Es ist ein Roman mit autobiografischen Zügen, der Smith – die von 1896 bis 1972 lebte und ebenfalls in Armut im selben Stadtteil aufgewachsen ist – einen Bestseller ermöglichte. Weitere Romane sollten folgen.
Sofort ist es als Leser nachvollziehbar, wo der Erfolg herkam. „Ein Baum wächst in Brooklyn“ ist ein mit großer Erzählkraft geschildertes Gesellschaftspanorama der armen Schichten im New York des frühen 20. Jahrhunderts – und Smith hat ein überragendes Talent für die Darstellung von Charakteren, Details und Stimmungen dieses Milieus.
Lockerer Erzählstil
Auf 621 Seiten ist die Lektüre durch den lockeren, flüssigen Erzählstil ein Vergnügen. Protagonistin ist die zu Beginn elfjährige Francie – eine schüchterne, schlaue Träumerin, die sich vorgenommen hat, jeden Tag ein anderes Buch aus der Stadtteilbücherei zu lesen. Mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder geht sie Schrott sammeln, um ein paar zusätzliche Pennys zu verdienen – die Mutter arbeitet als Putzfrau, der alkoholkranke Vater als Gelegenheits-Kellner.
Francie ist in der zweiten Generation US-Amerikanerin. Ihre Mutter hat österreichische, ihr Vater irische Wurzeln. Die Nachbarn der Familie sind deutsche, irische oder italienische Migranten. Sie leben alle in den dreckigen Mietshäusern Brooklyns.
Lebendig erzählt Smith von diesen Menschen. Von der lebensfrohen Tante, die in einer Kondomfabrik arbeitet; von der jungen, alleinerziehenden Frau, die von den Nachbarinnen mit Steinen beworfen wird, als sie sich traut, draußen mit dem Kinderwagen spazieren zu gehen. Vom liebevollen, aber unverlässlichen Vater, der immer ein Lied auf den Lippen trägt.
Die hungrigen Kinder singen und spielen in den Gassen, die Väter diskutieren in der Kneipe über den nächsten Präsidenten, das Frauenwahlrecht oder den Ersten Weltkrieg.
Francie ist mittendrin. Ihr fallen Dinge im Alltag auf, die andere übersehen – und mit einer dementsprechenden Sorgfalt beschreibt die Erzählerin, was Francie beobachtet. Das kann ein Baum im Innenhof ihres Hauses sein, eine Blechdose oder ein Backstein: „Im Winter, wenn der erste Schnee zu zart war, um auf den Gehwegen liegen zu bleiben, klammerte er sich an die raue Oberfläche des Backsteins und sah aus wie Tüllspitze.“
Die Protagonistin beobachtet nicht nur, sondern schreibt auch selbst gerne, und während sie anfangs dafür mit glänzenden Noten in der Schule belohnt wird, wird ihre Lehrerin sauer, als Francie beginnt, auch ihre tatsächliche Umgebung zu beschreiben. „Armut, Hunger und Trunkenheit sind doch hässliche Themen“, meint die Lehrerin.
Wie viel Wahrhaftigkeit und Intensität in der Erzählung genau dieser Themen liegen kann, zeigt Schriftstellerin Smith dann stellvertretend für ihre Figur Francie – denn die verunsicherte Schülerin hört nach dem Gespräch mit der Lehrerin mit dem Schreiben auf.